Blinde Weide, Schlafende Frau
das von einem hüfthohen Mäuerchen aus roten Backsteinen umgeben war. Es war grellrosa verputzt, und im Garten standen kleine Palmen und fünf Holztische mit verblichenen Segeltuchschirmen darüber. Es war noch früh, und nur wenige Gäste hatten sich eingefunden. An einem Tisch saßen zwei ältere Männer mit kurzem grauem Haar, anscheinend Chinesen, tranken Bier und taten sich schweigend an einer Reihe Leckerbissen vor ihnen gütlich. Zu ihren Füßen döste mit halb geschlossenen Augen ein großer schwarzer Hund. Aus dem Küchenfenster zog wie ein Gespenst eine Dampfwolke und ein verlockender Essensduft. Neben dem Geklapper von Töpfen und Pfannen drangen auch die fröhlichen Stimmen der Köche ins Freie. Das Grün der in der Brise schwankenden Palmwedel leuchtete in der Abendsonne.
Die Frau blieb stehen und betrachtete die Szene.
»Wollen wir nicht hier zu Abend essen?«, schlug sie vor.
Der junge Mann las den Namen des Restaurants über dem Eingang und sah sich nach einer Speisekarte um. Zumindest draußen war keine angebracht. Er war unsicher.
»Tja, ich weiß nicht. Meinst du, man kann im Ausland einfach so in einem unbekannten Lokal essen?«
»Ich habe einen Riecher für gute Restaurants. Ich finde immer die besten. Und ich garantiere dir, hier schmeckt es köstlich. Komm, wir probieren es aus.«
Der Mann schloss die Augen und holte tief Luft. Er wusste nicht, was sie da zubereiteten, aber es roch tatsächlich verlockend, und das Restaurant wirkte einladend. »Meinst du, es ist sauber?«
Sie zog ihn am Arm. »Du bist da zu empfindlich, nimm’s mal locker. Jetzt sind wir so weit geflogen, da sollten wir auch ein bisschen abenteuerlustiger sein. Es ist doch langweilig, jeden Tag im Hotel zu essen. Komm schon.«
Krebse waren die Spezialität des Hauses, erfuhren sie. Die Speisekarte war auf Englisch und Chinesisch. Die meisten Gäste waren Einheimische und die Preise entsprechend niedrig. Laut Speisekarte gab es in Singapur zig Arten von Krebsen und Hunderte von Zubereitungsmethoden. Der Mann und die Frau nahmen ein Singapur-Bier und bestellten mehrere Krebsgerichte, um sie zu teilen. Die Portionen waren reichlich, die Zutaten frisch und alles gerade richtig gewürzt.
»Die Küche ist wirklich gut«, sagte der Mann beeindruckt.
»Siehst du? Ich habe ein Talent dafür, gute Restaurants aufzuspüren. Glaubst du mir jetzt?«
»Ja, du hast da wirklich ein Talent«, gab der junge Mann zu.
»Dieses Talent ist ausgesprochen nützlich«, sagte die Frau. »Essen ist viel wichtiger, als man gemeinhin annimmt. Im Leben kommt immer ein Punkt, an dem man etwas besonders Köstliches essen muss. Und wenn man an diesem Punkt steht, kann es lebensentscheidend sein, ob man in ein gutes oder ein schlechtes Restaurant geht – ob man auf diese oder jene Seite des Zauns fällt.«
»Interessant«, sagte der junge Mann. »Das Leben kann ganz schön unheimlich sein, nicht?«
»Genau«, sagte sie und hob schalkhaft einen Zeigefinger. »Unheimlicher, als du dir vorstellen kannst.«
Der junge Mann nickte. »Und diesmal sind wir auf die richtige Seite des Zauns gefallen.«
»Genau«, sagte sie.
»Dann ist ja gut«, sagte der junge Mann unbeteiligt. »Magst du Krebse?«
»Ja, sehr. Schon immer. Und du?«
»Und wie! Ich könnte jeden Tag Krebse essen.«
»Dann haben wir ja schon wieder was gemeinsam.« Sie strahlte.
Der Mann lächelte zurück. Sie erhoben ihre Gläser und prosteten einander zu.
»Wir müssen morgen wieder herkommen«, sagte sie. »Es gibt bestimmt nicht viele Lokale auf der Welt, in denen man so billig und gut essen kann.«
Auch an den folgenden drei Tagen aßen sie Krebse. Morgens gingen sie zum Strand, schwammen und sonnten sich, anschließend bummelten sie durch die Läden für Kunsthandwerk und kauften Mitbringsel. Jeden Abend um die gleiche Zeit gingen sie in das Restaurant in der Seitengasse, probierten verschiedene Krebsgerichte aus, kehrten in ihr Hotel zurück, schliefen miteinander und fielen in traumlosen Schlaf. Jeder Tag war ein Tag im Paradies. Die Frau war sechsundzwanzig und unterrichtete an einer privaten Mädchenschule Englisch für die Mittelstufe. Der Mann, achtundzwanzig, arbeitete als Rechnungsprüfer bei einer großen Bank. Es grenzte an ein Wunder, dass sie gleichzeitig hatten Urlaub nehmen können, und sie genossen diese freien, unbehelligten Tage zu zweit in vollen Zügen. Beide mieden sie sorgfältig jedes Thema, das ihre kostbare gemeinsame Zeit vielleicht
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