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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Jahre nicht angerufen, warum gerade heute?«
    »Eine bestimmte Begegnung hatte mich an dich erinnert, und ich fragte mich plötzlich, wie es dir geht. Ich wollte einfach deine Stimme hören. Mehr nicht.«
    »Niemand hat dir etwas gesagt?«
    Er erschrak über den sonderbaren Klang ihrer Stimme. »Nein, ich habe nichts gehört. Ist denn etwas passiert?«
    Seine Schwester schwieg eine Weile, wie um ihre Gefühle zu zügeln. Er wartete geduldig.
    »Ich muss morgen ins Krankenhaus«, sagte sie.
    »Ins Krankenhaus? Weshalb?«
    »Ich habe Brustkrebs. Mir wird die rechte Brust abgenommen. Die ganze. Aber sie wissen nicht, ob das den Krebs aufhalten wird. Das stellt sich erst nach der Operation heraus.«
    Er war wie vor den Kopf geschlagen. Die Hand auf ihrer Schulter, ließ er den Blick über die Dinge im Raum schweifen. Die Uhr. Ein Ziergegenstand. Der Kalender. Die Fernbedienung der Stereoanlage. Obwohl es vertraute Dinge in einem vertrauten Raum waren, verschwammen sie vor seinen Augen, und er konnte die Distanzen zwischen ihnen nicht erfassen.
    »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich mich mit dir in Verbindung setzen soll«, sagte seine Schwester. »Dann fand ich es besser, es nicht zu tun. Aber ich wollte dich so gern sehen, wenigstens einmal in Ruhe mit dir sprechen. Es gibt Dinge, für die ich mich bei dir entschuldigen muss. Aber … ich wollte dir nicht in diesem Zustand gegenübertreten. Verstehst du das?«
    »Ja«, sagte ihr jüngerer Bruder.
    »Ich wollte, dass wir uns unter glücklicheren Umständen wiedersehen, wenn ich optimistischer in die Zukunft blicken könnte. Also beschloss ich, mich nicht zu melden. Und genau in dem Moment, als ich mich entschieden hatte, hast du angerufen.«
    Wortlos schloss er seine Schwester in die Arme. Er spürte ihre beiden Brüste an seiner Brust. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte. Lange hielten Bruder und Schwester sich umarmt.
    Schließlich stellte sie ihm eine Frage. »Du hast gesagt, etwas habe dich an mich erinnert. Was war das? Magst du’s mir erzählen?«
    »Natürlich, aber das lässt sich nicht mit einem Wort erklären. Es war ein Zufall, eine Kette von Zufällen, ein Zufall nach dem anderen, und da …«
    Er schüttelte den Kopf. Sein Gefühl für Distanzen war noch nicht zurückgekehrt. Zwischen der Fernbedienung und der Vase dort lagen Lichtjahre.
    »Ich kann es einfach nicht erklären«, sagte er.
    »Macht nichts«, sagte seine Schwester. »Aber ich bin froh, dass es so gekommen ist. Sehr froh.«
    Er berührte ihr rechtes Ohrläppchen und kratzte mit der Fingerspitze leicht an ihrem Muttermal. Dann küsste er sie sacht darauf, als wollte er eine wortlose Botschaft an einen sehr wichtigen Ort senden.

    »Die rechte Brust meiner Schwester wurde bei der Operation entfernt, doch glücklicherweise hatten sich keine Metastasen gebildet, und sie kam mit einer leichten Chemotherapie davon. Nicht einmal die Haare sind ihr ausgefallen. Inzwischen ist sie wieder ganz gesund. Ich habe sie damals jeden Tag im Krankenhaus besucht. Es muss für eine Frau furchtbar sein, eine Brust zu verlieren. Auch seit sie wieder zu Hause ist, schaue ich oft vorbei. Ich verstehe mich sehr gut mit meinem Neffen und meiner Nichte. Ich gebe der Kleinen Klavierunterricht. Ich will nicht angeben, aber sie hat Talent. Und wo ich meinen Schwager nun kennen gelernt habe, kommt er mir nicht mehr ganz so übel vor. Er hat endlich kapiert, dass Homosexualität keine ansteckende Krankheit ist, mit der ich seine Kinder verseuche. Ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt.«
    Der Klavierstimmer lachte.
    »Seit der Versöhnung mit meiner Schwester habe ich das Gefühl, im Leben einen Schritt vorangekommen zu sein. Als könnte ich jetzt mehr denn je so leben, wie ich gedacht bin … Wahrscheinlich musste ich mich dem endlich stellen. Ich glaube, tief im Inneren habe ich immer gehofft, wir könnten uns noch einmal umarmen, meine Schwester und ich.«
    »Aber es brauchte einen Anstoß, nicht wahr?«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er und nickte mehrmals. »Da liegt der Schlüssel. Und, wissen Sie, damals kam mir der folgende Gedanke: Vielleicht sind Zufälle ein ziemlich häufiges Phänomen. Sie treten um uns herum ständig auf, nur beachten wir die meisten nicht und nehmen sie einfach hin. Wie bei einem Feuerwerk am Tag: Wir hören es zwar knallen, sehen aber nichts, selbst wenn wir mal einen Blick in den Himmel werfen. Wenn wir uns aber sehr wünschen, dass etwas wahr wird, dann tritt es

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