Blinde Weide, Schlafende Frau
und der weiße Knochen ragte grässlich aus dem Stumpf hervor. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Es war ihr Sohn. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie immer, wenn er fest schlief. Unglaublich, dass er tot sein sollte. Ob sie irgendetwas an seinem Gesicht gemacht hatten? Ihr war, als müsse sie nur an seiner Schulter rütteln und er würde unwirsch murrend aufwachen. Wie jeden Morgen.
In einem anderen Raum unterschrieb sie eine Bestätigung, dass es sich bei der Leiche um ihren Sohn handelte. Der Beamte fragte sie, was nun mit der Leiche geschehen solle.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Was tut man normalerweise in solch einem Fall?«
»Im Allgemeinen wird der Leichnam kremiert, und die Angehörigen nehmen die Asche mit nach Hause«, erklärte er ihr. Es bestehe auch die Möglichkeit, den Leichnam nach Japan überführen zu lassen, aber das sei bürokratisch aufwendiger und auch teurer. Natürlich könne sie ihren Sohn auch in Kauai bestatten lassen.
»Bitte verbrennen Sie ihn. Ich werde die Asche mit nach Tokyo nehmen.« Ihr Sohn war tot. Nichts würde ihn je wieder lebendig machen. Was machte es für einen Unterschied, ob er Asche, Knochen oder ein Leichnam war? Mit einer weiteren Unterschrift gab sie ihre Zustimmung zur Verbrennung und entrichtete anschließend die notwendige Gebühr.
»Ich habe nur American Express«, sagte Sachi.
»Das ist in Ordnung«, sagte der Beamte.
Ich bezahle mit einer American-Express-Karte für die Verbrennung meines Sohnes, dachte Sachi. Es kam ihr vollkommen irreal vor. Ebenso irreal wie der Umstand, dass ihr Sohn von einem Hai getötet worden war. Die Verbrennung würde am folgenden Vormittag stattfinden.
»Sie sprechen sehr gut Englisch«, sagte der Beamte, während er die Dokumente ordnete. Er hieß Sakata und war japanisch-amerikanischer Abstammung.
»Als ich jung war, habe ich eine Zeit lang in Amerika gelebt«, sagte Sachi.
»Ach so, deshalb«, sagte er und übergab ihr die Sachen ihres Sohnes: Kleidung, Pass, Rückflugticket, Zeitschriften, Sonnenbrille, Kulturbeutel. Es passte alles in ihre kleine Reisetasche. Sachi musste eine Quittung für die spärlichen Habseligkeiten unterschreiben.
»Haben Sie noch weitere Kinder?«, fragte der Beamte.
»Nein, er war mein einziges«, antwortete Sachi.
»Und Ihr Mann konnte nicht mitkommen?«
»Er ist vor langer Zeit gestorben.«
Der Beamte stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das tut mir sehr leid. Bitte sagen Sie Bescheid, wenn ich noch irgendetwas für Sie tun kann.«
»Vielleicht könnten Sie mir sagen, wo mein Sohn gestorben ist? Und wo er gewohnt hat? Sicher ist die Hotelrechnung noch offen. Und dann möchte ich mich mit dem japanischen Konsulat in Honolulu in Verbindung setzen. Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?«
Er holte eine Karte und markierte die Stelle, an der Sachis Sohn ums Leben gekommen war, und seine Unterkunft. Sie selbst übernachtete in einem kleinen Hotel in der Stadt, das der Beamte ihr empfohlen hatte.
»Ich habe eine persönliche Bitte an Sie«, sagte der schon ergraute Beamte, als Sachi sich verabschiedete. »Hier auf Kauai raubt die Natur immer wieder Menschenleben. Sie sehen, wie schön unsere Natur ist, aber sie kann auch wild und tödlich sein. Damit müssen wir hier leben. Es tut mir sehr leid um Ihren Sohn. Ich fühle von ganzem Herzen mit Ihnen. Doch zugleich bitte ich Sie, unsere Insel nicht zu hassen. Das klingt für Sie vielleicht eigensüchtig. Aber ich bitte Sie darum.«
Sachi nickte.
»Wissen Sie, der Bruder meiner Mutter ist 1944 im Krieg gefallen. An der deutsch-belgischen Grenze. Er gehörte zum 442. Regiment, das sich ganz aus japanisch-amerikanischen Freiwilligen zusammensetzte. Sie wollten ein texanisches Bataillon befreien, das von den Nazis eingeschlossen war. Die Deutschen landeten einen Volltreffer, und alle wurden getötet. Außer seiner Hundemarke und ein paar verstreuten Fleischfetzen im Schnee blieb nichts von ihm übrig. Meine Mutter hatte ihren Bruder sehr geliebt, und sie soll sich danach sehr verändert haben. Ich kannte sie ja erst, nachdem all das geschehen war, aber allein der Gedanke ist schmerzlich.«
Der Beamte schüttelte den Kopf.
»Auch wenn es angeblich um die ›gerechte Sache‹ geht, sterben die Menschen im Krieg durch Hass und Zorn auf beiden Seiten. Aber die Natur kennt keine Seiten. Sie machen eine qualvolle Erfahrung, aber wenn es Ihnen möglich ist, sehen Sie es doch einmal so: Ihr Sohn ist nicht durch Hass und Zorn im Namen einer so genannten
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