Blinde Weide, Schlafende Frau
vielleicht zutage wie eine Botschaft, die an die Oberfläche steigt. Und wenn wir dann auch noch imstande sind, diese Zeichen zu deuten, sind wir ganz überrascht und sagen, ›was es nicht alles gibt!‹ Dabei ist es gar nicht so seltsam. Was meinen Sie? Sind meine Gedanken abwegig?«
Ich dachte über das nach, was er gesagt hatte.
»Vielleicht haben Sie Recht«, murmelte ich, aber ich war mir alles andere als sicher, ob die Dinge wirklich so einfach liegen.
»Ich würde lieber an etwas Einfacheres glauben, zum Beispiel an einen Gott des Jazz«, sagte ich.
Er lachte. »Das gefällt mir. Es wäre zu schön, wenn es auch einen Gott der Schwulen gäbe.«
Was aus der zierlichen Frau geworden ist, die er in dem Buchladencafé kennen gelernt hatte, weiß ich nicht. Ich habe mein Klavier seit mehr als einem halben Jahr nicht stimmen lassen und hatte deshalb keine Gelegenheit, meinen Bekannten auf sie anzusprechen. Doch vermutlich fährt er dienstags noch immer über den Tamagawa, um in dem Café zu sitzen und zu lesen. Vielleicht ist er ihr ja wieder begegnet. Aber ich habe nichts davon gehört. Also endet die Geschichte hier.
Es ist mir gleich, ob es der Gott des Jazz oder der Gott der Schwulen oder sonst ein Gott ist, nur hoffe ich, dass irgendwo dort oben jemand ganz unauffällig, als wäre es der reine Zufall, über diese Frau wacht.
Das hoffe ich von ganzen Herzen. Eine sehr bescheidene Hoffnung.
Hanalei Bay
Mit neunzehn wurde Sachis Sohn beim Surfen in der Hanalei Bay von einem großen Hai angegriffen und kam dabei ums Leben. Gefressen hatte ihn der Hai allerdings nicht. Das Tier riss dem Jungen, der allein weit vor der Küste surfte, nur das rechte Bein ab und biss auch sein Surfbrett beinahe entzwei. Der Junge erlitt einen Schock und ertrank. Die offizielle Todesursache lautete also Tod durch Ertrinken. Eigentlich machen sich Haie nichts aus Menschenfleisch und lassen häufig nach dem ersten Bissen enttäuscht von ihrem Opfer ab. So verlieren bei einem Angriff viele einen Arm oder ein Bein, kommen aber mit dem Leben davon, solange sie nicht in Panik geraten. Sachis Sohn dagegen erlitt wohl einen Herzanfall, schluckte infolgedessen große Mengen Wasser und ertrank.
Als Sachi die Nachricht vom japanischen Konsulat in Honolulu erhielt, gaben ihre Beine nach, und sie sank zu Boden. In ihrem Kopf wurde alles weiß, und sie konnte nicht mehr denken. Nur noch da sitzen und die Wand anstarren. Wie viel Zeit dabei verging, wusste sie nicht. Am Ende schaffte sie es, so weit zu sich zu kommen, dass sie die Nummer einer Fluggesellschaft heraussuchen und einen Platz nach Hawaii buchen konnte. Das Konsulat hatte sie gedrängt, so bald wie möglich anzureisen, damit sie sich vergewissern könne, ob es sich bei dem Toten wirklich um ihren Sohn handelte. Es bestand also immer noch die Möglichkeit einer Verwechslung.
Jetzt, in der Hochsaison, waren sämtliche Flüge für denselben und den nächsten Tag ausgebucht. Alle Fluggesellschaften, bei denen Sachi anrief, sagten ihr das Gleiche. Erst als sie ihren Fall schilderte, sagte eine Angestellte von United: »Kommen Sie erst mal so schnell Sie können her. Wir finden schon einen Sitz für Sie.«
Sachi stopfte das Nötigste in eine kleine Tasche und fuhr zum Flughafen nach Narita. Die zuständige Dame händigte ihr ein Ticket für die Businessklasse aus. »Etwas anderes haben wir heute nicht frei, aber wir berechnen Ihnen nur Touristenklasse«, sagte sie. »Das muss entsetzlich für Sie sein. Ich wünsche Ihnen viel Kraft.« Sachi war sehr dankbar für ihre Hilfe.
Als sie in Honolulu ankam, merkte Sachi, dass sie in ihrer Aufregung vergessen hatte, das Konsulat von ihrer Ankunft zu unterrichten. Ein Mitarbeiter hatte sie eigentlich nach Kauai bringen sollen. Es war ihr zu umständlich, jetzt noch das Konsulat zu kontaktieren und womöglich ewig warten zu müssen, bis jemand kam. Sie beschloss, sich allein auf den Weg zu machen. Alles würde sich finden, wenn sie erst einmal an Ort und Stelle war. Ihr Flug kam noch vor zwölf auf der Insel an. Sie mietete am Flughafen einen Wagen und fuhr direkt zur nächsten Polizeiwache. Sie sei soeben aus Tokyo eingetroffen, sagte sie den Beamten, nachdem man ihr mitgeteilt habe, ihr Sohn sei in der Hanalei Bay von einem Hai getötet worden. Ein grauhaariger Beamter mit Brille brachte sie in ein Leichenschauhaus, das Ähnlichkeit mit einem Kühllager hatte, und zeigte ihr ihren Sohn. Sein Bein war oberhalb des rechten Knies abgerissen,
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