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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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besaß. Sie brauchte eine Melodie nur einmal zu hören, um sie auf der Tastatur umsetzen zu können. Ohne dass jemand es ihr zeigte, lernte sie, ihre Finger über die richtigen Tasten gleiten zu lassen. Offenbar hatte sie ein Talent fürs Klavierspielen.
    Ein junger Musiklehrer hörte sie zufällig und war beeindruckt. Er berichtigte einige grundsätzliche Fehler ihrer Fingerhaltung. »Du kannst zwar auch so spielen, aber so geht es schneller«, sagte er. Sachi begriff sofort. Der Lehrer war Jazzfan und brachte ihr nach der Schule die theoretischen Grundlagen für Jazzklavier bei. Wie sich die Akkorde zusammensetzten, wie man die Pedale betätigte und was Improvisation bedeutete. Sie nahm alles begierig auf. Dann lieh er ihr Schallplatten – Red Garland, Bill Evans, Wynton Kelly –, die sie so oft hörte, bis sie sie nachspielen konnte. Nachdem sie den Dreh einmal heraus hatte, fielen ihr diese Imitationen leicht. Sound und Rhythmus der Stücke flossen ihr, ohne dass sie eine Note davon gesehen hatte, unmittelbar in ihre Finger. »Du bist wirklich begabt«, sagte der Lehrer. »Wenn du tüchtig übst, kannst du Pianistin werden.«
    Sachi selbst war jedoch nicht dieser Ansicht. Es fiel ihr leicht, etwas zu spielen, das schon vorhanden war. Aber eine eigenständige Umsetzung gelang ihr nicht. Beim Anblick eines Notenblatts bekam sie Beklemmungen, und ihre Versuche zu improvisieren endeten stets damit, dass sie das Originalsolo eines anderen kopierte. Am besten konnte sie wiedergeben, was sie gehört hatte. Nie im Leben würde aus ihr eine Pianistin, fand sie.
    Sachi beschloss, nach der Schule eine Ausbildung zur Köchin zu machen. Nicht dass sie sich besonders für Kochen interessiert hätte, aber ihr Vater besaß ein Restaurant. Vielleicht konnte sie es später einmal übernehmen. Eine andere Idee hatte sie nicht. Also ging sie nach Chicago, um eine Kochschule zu besuchen. Chigaco ist nicht gerade für seine Gourmetküche bekannt, aber sie hatte dort Verwandte, die für sie bürgen konnten.
    In dieser Zeit spielte sie in einer kleinen Pianobar; eine ihrer Mitschülerinnen hatte sie dort eingeführt. Anfangs jobbte sie dort nur, um sich ihr Taschengeld zu verdienen. Mit dem, was ihr Vater ihr schickte, kam sie kaum über die Runden, und sie war für jeden zusätzlichen Dollar dankbar. Der Besitzer der Bar war begeistert von ihrem Nachahmungstalent. Eine Melodie, die sie einmal gehört hatte, vergaß sie nie. Selbst Songs, die sie noch nie gehört hatte, konnte sie sofort nachspielen, wenn jemand sie ihr vorsummte. Sie war keine Schönheit, sah aber ganz gut aus, und ihre Auftritte zogen allmählich immer mehr Publikum an. Mit der Zeit bekam sie so viel Trinkgeld, dass sie von der Kochschule abging. Am Klavier zu sitzen fiel ihr viel leichter und machte ihr mehr Spaß, als an blutigem Schweinefleisch herumzusäbeln, steinharten Käse zu reiben oder schwere, verkrustete Bratpfannen zu scheuern.
    Daher fand Sachi sich später auch damit ab, dass ihr Sohn immer öfter die Schule schwänzte, um seine Zeit mit Surfen zu verbringen. Schließlich war ich auch nicht anders, als ich jung war , dachte sie. Man kann einen Menschen zu nichts zwingen. Wahrscheinlich liegt es uns im Blut .
    Anderthalb Jahre spielte sie in der Bar. Ihr Englisch wurde immer besser, und sie konnte eine hübsche Summe zurücklegen. Sie hatte auch einen amerikanischen Freund. Er war schwarz, gut aussehend und angehender Schauspieler. (Später sah Sachi ihn in einer Nebenrolle in Stirb langsam 2.) Eines Abends tauchte jedoch ein Beamter der Einwanderungsbehörde mit einer Plakette auf der Brust in der Bar auf. Offenbar hatte sie zu viel Aufmerksamkeit erregt. Nachdem er ihren Pass verlangt hatte, nahm er sie sofort fest, denn sie besaß keine Arbeitserlaubnis. Wenige Tage später saß sie in einem Jumbo Jet nach Narita – natürlich hatte sie den Flug von ihren Ersparnissen bezahlen müssen. So endete Sachis Leben in Amerika.
    Wieder in Japan, grübelte Sachi über Perspektiven für ihr weiteres Leben nach, aber außer Klavierspielen fiel ihr nichts ein. Durch ihre Schwierigkeiten mit dem Notenlesen waren ihre Aussichten begrenzt, aber immerhin gab es einige Orte, an denen ihre Begabung, nach Gehör zu spielen, gefragt war, zum Beispiel in Hotelfoyers, Nachtclubs und Pianobars. Sie konnte in jedem Stil spielen, den die Atmosphäre oder die Gäste verlangten. Auch Publikumswünsche waren kein Problem für sie. Sie mochte ein »musikalisches

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