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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gerechten Sache gestorben, sondern ist wieder in den Kreislauf der Natur eingegangen.«

    Nach der Verbrennung am nächsten Tag erhielt Sachi die Asche in einer kleinen Aluminiumurne. Anschließend fuhr sie zur Hanalei Bay an der Nordküste der Insel. Von der Polizeistation in Lihue brauchte sie ungefähr eine Stunde bis dorthin. Vor einigen Jahren hatte ein gewaltiger Taifun fast alle Bäume auf der Insel niedergemäht. Sachi sah auch einige Holzhäuser, deren Dächer davongeweht worden waren. Der Sturm schien sogar die Gestalt einiger Berge verändert zu haben. Die Natur konnte hier sehr gewalttätig sein.
    Sie fuhr durch das verschlafene Städtchen Hanalei an den Surferstrand, wo der Hai ihren Sohn angegriffen hatte. Sie parkte in der Nähe, setzte sich in den Sand und beobachtete die etwa fünf Surfer, die über die Wellen glitten. Zuerst paddelten sie auf ihren Brettern weit hinaus, bis sie eine große Welle erwischten. Dann stiegen sie auf ihre Bretter und ritten die Welle fast bis zum Strand. Ließ die Spannung der Welle nach, verloren sie das Gleichgewicht und fielen ins Wasser. Dann hängten sie sich an ihrer Bretter und paddelten, unter den heranbrandenden Wellen hindurchtauchend, wieder aufs offene Meer zu. Dieser Ablauf wiederholte sich immer wieder. Sachi traute ihren Augen nicht. Hatten sie denn gar keine Angst vor Haien? Oder hatten sie nichts davon gehört, dass ihr Sohn erst vor wenigen Tagen genau an dieser Stelle von einem Hai getötet worden war?
    Eine gute Stunde saß Sachi am Strand und sah den Surfern zu. Ihre Gedanken huschten verschwommen und konturenlos durcheinander. Die Vergangenheit schien kein Gewicht mehr zu haben und war verschwunden, die Zukunft lag in weiter, dämmriger Ferne. Sie saß in einer unablässig schwankenden Gegenwart, während ihre Augen mechanisch die sich wiederholende Szene zwischen den Surfern und den Wellen verfolgten. Was ich jetzt am nötigsten brauche, ist Zeit, dachte sie auf einmal.
    Dann fuhr sie in das Hotel, in dem ihr Sohn gewohnt hatte. Es war ein schäbiges kleines Surfer-Hotel mit einem verwilderten Garten. Zwei junge langhaarige Weiße saßen mit nacktem Oberkörper in Liegestühlen und tranken Bier. Mehrere leere grüne Rolling-Rock-Flaschen lagen zu ihren Füßen im Gras verstreut. Einer war blond, der andere dunkelhaarig. Ihre Gesichter und ihr Körperbau wirkten sehr ähnlich. Beide hatten auffällig tätowierte Arme. Es roch nach einem Gemisch aus Marihuana und Hundekot. Als Sachi auf die beiden zuging, blickten sie ihr argwöhnisch entgegen.
    »Mein Sohn hat hier gewohnt«, sagte sie. »Er ist vor drei Tagen von einem Hai getötet worden.«
    Die beiden wechselten einen Blick. »Meinen Sie Takahashi?«
    »Ja«, sagte Sachi. »Takahashi.«
    »Er war ein cooler Typ«, sagte der Blonde. »Tut mir leid.«
    »An dem Morgen waren jede Menge Schildkröten in der Bucht«, erklärte der Dunkelhaarige in nachlässigem Tonfall. »Die Haie kommen wegen der Schildkröten. Normalerweise gehen die nicht an die Surfer. Wir kommen gut mit ihnen klar. Aber auch bei Haien gibt es verschiedene Typen …«
    Sachi sagte, sie wolle die Hotelrechnung begleichen. Sicher sei da noch etwas offen.
    Der Blonde runzelte die Stirn und wedelte mit seiner Bierflasche. »Nee, gute Frau, da sind Sie auf dem falschen Dampfer. Hier wohnen nur arme Surfer, und die müssen im Voraus zahlen. Hier bleibt nix offen.«
    »Hören Sie mal«, sagte der Dunkelhaarige. »Wollen Sie vielleicht Takahashis Surfbrett mitnehmen? Der verdammte Hai hat fast Kleinholz daraus gemacht. Ein altes Dick Brewer. Die Bullen haben es nicht einkassiert, es muss noch irgendwo rumliegen …«
    Sachi schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht sehen.
    »Tut mir echt leid«, sagte der Blonde wieder, als fiele ihm nicht anderes ein.
    »Er war ein cooler Typ«, wiederholte der Dunkelhaarige. »Voll okay. Klasse Surfer. Ach, stimmt ja, wir haben am Abend vorher hier noch Tequila zusammen getrunken.«

    Am Ende blieb Sachi eine Woche in Hanalei. Sie mietete das beste Cottage, das sie finden konnte, und versorgte sich selbst. Bevor sie nach Japan zurückkehrte, musste sie wieder zu sich finden. Sie kaufte einen Plastikstuhl, Sonnenbrille, Sonnenhut, Sonnenschirm und Sonnencreme und setzte sich jeden Tag an den Strand, um die Surfer zu beobachten. Mehrmals am Tag regnete es so heftig, als würde jemand einen riesigen Eimer Wasser über der Erde auskippen. Im Herbst war das Wetter an der Nordküste von Kauai nicht

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