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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Chamäleon« sein, aber Arbeit konnte sie immer finden.
    Mit vierundzwanzig heiratete sie, zwei Jahre später wurde ihr Sohn geboren. Ihr Mann war Jazzgitarrist und ein Jahr jünger als sie. Er verdiente so gut wie nichts, war drogensüchtig und ließ sich ständig mit anderen Frauen ein. Meist kam er gar nicht nach Hause, und wenn, wurde er gewalttätig. Alle hatten Sachi von der Heirat abgeraten, und nun drängten alle sie zur Scheidung. Bei aller Ungeschliffenheit war Sachis Mann jedoch ein origineller Musiker, der in der Jazzszene als kommender Star Beachtung fand. Vermutlich hatte Sachi sich deshalb zu ihm hingezogen gefühlt. Die Ehe dauerte nur fünf Jahre, dann erlitt er eines Nachts in der Wohnung einer anderen Frau einen Herzanfall und starb nackt auf dem Weg ins Krankenhaus. Wahrscheinlich an einer Überdosis.
    Nach dem Tod ihres Mannes eröffnete Sachi eine kleine Pianobar in Roppongi. Sie hatte ein paar Ersparnisse und bekam eine Lebensversicherung ausgezahlt, die sie heimlich auf ihren Mann abgeschlossen hatte. Außerdem gelang es ihr, einen Kredit aufzunehmen; der Leiter der Filiale war Stammgast in der Bar, in der Sachi gespielt hatte. Sie stellte einen gebrauchten Flügel auf und ließ eine Bar in der gleichen Form einbauen. Die Geschäftsleitung übernahm ein ausgesprochen fähiger Manager und Bartender, den sie aus einer anderen Bar abgeworben hatte und dem sie ein stattliches Gehalt zahlte. Sie trat jeden Abend auf, spielte Publikumswünsche und begleitete die Gäste beim Singen. Auf dem Flügel stand ein Fischglas für Trinkgelder. Ab und zu schauten auch Musiker aus benachbarten Jazzbars herein und spielten ein paar Stücke.
    Bald hatte sie eine Menge Stammgäste, und das Geschäft lief viel besser als erwartet. Sachi konnte ihren Kredit pünktlich zurückbezahlen. Vom Eheleben hatte sie genug und lehnte es ab, wieder zu heiraten, doch hin und wieder hatte sie einen Liebhaber. Die meisten waren verheiratet, was es ihr nur leichter machte. Ihr Sohn wuchs heran und wurde Surfer. Eines Tages verkündete er, er wolle zum Surfen nach Kauai in die Hanalei-Bucht. Sie war von dieser Idee keineswegs begeistert, aber der ewigen Streitereien müde, gab sie ihm widerstrebend das Geld für die Reise; lange Auseinandersetzungen waren nicht gerade ihre Stärke. Als er dann in der Hanalei-Bucht auf eine große Welle wartete, kam ein Hai auf der Jagd nach Schildkröten vorbei und beendete das kurze neunzehnjährige Leben ihres Sohnes.
    Nach seinem Tod arbeitete Sachi noch mehr als früher. Ein ganzes Jahr lang spielte sie fast ohne Unterbrechung. Als der Herbst zu Ende ging, gab sie sich drei Wochen frei und kaufte bei United Airlines einen Businessklasseflug nach Kauai. Ein anderer Pianist vertrat sie in der Bar.

    Manchmal trat Sachi auch in Hanalei auf. Eines der Restaurants hatte einen kleinen Flügel, an dem an Wochenenden ein klapperdürrer Mittfünfziger saß. Meist spielte er harmlose Liedchen wie »Bali Hai« und »Blue Hawaii«. Er war kein großartiger Pianist, aber seine warmherzige Persönlichkeit kam in seinem Spiel zur Wirkung. Sachi freundete sich mit ihm an und vertrat ihn hin und wieder, zu ihrem Vergnügen und ohne Bezahlung; dafür spendierte ihr der Wirt Wein und Pasta. Es tat ihr gut, ihre Hände auf der Tastatur zu spüren, und sie öffnete sich innerlich. Hier ging es weder um Talent noch um den Zweck und Nutzen ihres Tuns. Sachi vermutete, dass ihr Sohn sich ähnlich gefühlt hatte, wenn er auf dem Kamm einer Welle dahinglitt.
    Wenn sie ganz ehrlich war, musste Sachi zugeben, dass sie ihren Sohn nie wirklich gemocht hatte. Natürlich hatte sie ihn geliebt. Niemanden auf der ganzen Welt hatte sie so lieb gehabt. Aber in menschlicher Hinsicht – sie hatte lange gebraucht, um sich das einzugestehen – war er ihr nicht sympathisch gewesen. Wäre er nicht Blut von ihrem Blut gewesen, hätte sie vermutlich nichts mit ihm zu tun haben wollen. Er war egoistisch, konnte sich auf nichts konzentrieren oder es auch nur zu einem einigermaßen sinnvollen Abschluss bringen. Er hatte immer eine Ausrede parat, um jedem ernsthaften Gespräch aus dem Weg zu gehen. Für die Schule lernte er nie, und dementsprechend waren seine Noten. Surfen war so ziemlich das Einzige, wofür er sich interessierte. Wie lange er dabei geblieben wäre, konnte man nicht wissen. Er sah gut aus, und es fehlte ihm nie an Freundinnen, aber wenn er sich mit einer genügend amüsiert hatte, warf er sie weg wie ein altes

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