Blinde Weide, Schlafende Frau
er, und während er noch zauderte, ging ein weiterer Tag zu Ende.
Die sonderbare Situation wurde ihm fast zu viel. Er glaubte, bisher nach seinen eigenen Wertmaßstäben gelebt zu haben. Aber wenn er in diesem Zimmer war und zum Rattern der vorüberfahrenden Züge diese schweigsame Frau umarmte, die älter war als er, hatte er das Gefühl, durch ein bedrückendes Chaos zu irren. »Liebe ich diese Frau denn?«, fragte er sich immer wieder, gelangte jedoch nie zu einer eindeutigen Antwort. Er sah nur bunte Schnüre, die von der Decke des kleinen Zimmers herunterhingen. Direkt vor ihm .
Nach ihren seltsamen Vereinigungen warf sie stets einen raschen Blick auf die Uhr, indem sie, noch in seinen Armen, den Kopf leicht nach hinten in Richtung des Weckers am Kopfende drehte. Es war ein schwarzer Radiowecker, der noch keine beleuchtete Digitalanzeige hatte, sondern kleine Nummerntäfelchen, die mit leisem Klicken umklappten. In der Nähe fuhr ein Zug vorbei. Es war seltsam, aber immer, wenn sie auf die Uhr schaute, hörte man einen Zug. Es war wie ein vorherbestimmter konditionierter Reflex. Sie sah auf die Uhr, ein Zug fuhr vorbei.
Mit dem Blick auf die Uhr vergewisserte sie sich, dass es noch nicht die Zeit war, zu der ihre vierjährige Tochter aus dem Kindergarten kam. Er hatte die Kleine nur einmal zufällig gesehen. Ein sehr artiges kleines Mädchen, das war der einzige Eindruck, den sie bei ihm hinterlassen hatte. Ihren Mann, den Opernliebhaber und Reisefachmann, hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Glücklicherweise.
An diesem Nachmittag im April fragte sie ihn also nach seinen Selbstgesprächen. Wieder hatte sie geweint, und wieder hatten sie sich danach geliebt. Warum sie geweint hatte, wusste er nicht mehr. Vielleicht hatte sie nur geweint, um zu weinen. Manchmal fragte er sich sogar, ob sie nur etwas mit ihm angefangen hatte, um in seinen Armen weinen zu können. Vielleicht kann sie allein nicht weinen und braucht mich deshalb, dachte er.
Sie hatte die Tür abgeschlossen, die Vorhänge zugezogen, das Telefon ans Bett geholt. Dann hatten sie zusammen geschlafen, wie immer ganz ruhig. Mittendrin klingelte es an der Tür. Sie machte nicht auf, reagierte aber weder überrascht noch erschrocken. Sie schüttelte wortlos den Kopf, wie um zu sagen: »Alles in Ordnung, es ist nicht wichtig.« Es klingelte noch mehrmals, aber schließlich gab die Person auf und ging. Es war nichts Wichtiges, wie sie gesagt hatte. Vielleicht ein Vertreter. Aber woher hatte sie das gewusst? Hin und wieder hörte man einen Zug. In der Ferne ertönte Klaviermusik. Er hatte das Stück früher in der Schule im Musikunterricht gehört, aber er konnte sich nicht an den Titel erinnern. Der Laster eines Gemüsehändlers rumpelte vorbei. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Er ejakulierte. Ganz ruhig.
Er ging als Erster ins Bad, um zu duschen. Als er zurück ins Zimmer kam, sich mit dem Badehandtuch noch frottierend, lag sie bäuchlings auf dem Bett. Sie hatte die Augen geschlossen. Er setzte sich neben sie. Wie immer ließ er seinen Blick über die Plattenhüllen wandern, während er ihren Rücken streichelte.
Bald stand sie auf, zog sich vollständig an und ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Kurz darauf kam ihre Frage: »Hast du diese Angewohnheit, mit dir selbst zu sprechen, schon länger?«
»Mit mir selbst?«, fragte er erstaunt. »Dabei?«
»Nein, nein. Irgendwann sonst. Zum Beispiel unter der Dusche, oder wenn ich in der Küche bin und du allein die Zeitung liest.«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich mit mir selbst rede.«
»Doch, wirklich.« Sie spielte mit seinem Feuerzeug.
»Nicht, dass ich es nicht glaube«, sagte er in unbehaglichem Ton. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand und zündete seine Zigarette an. Er hatte neuerdings angefangen, Seven Stars zu rauchen, statt wie bisher Short Hope. Ihr Mann rauchte Seven Stars. Sie hatte ihn nicht darum gebeten, er war von selbst darauf gekommen. Er fand es praktischer so, und es war wie in einem Melodram im Fernsehen.
»Ich habe als Kind auch oft mit mir selbst gesprochen.«
»Ja?«
»Aber meine Mutter hat es mir ausgetrieben. Jedes Mal, wenn ich mit mir selbst geredet habe, hat sie mich furchtbar angeschrieen. Mich in den Wandschrank gesperrt. Ich hatte große Angst vor dem Schrank. Es war dunkel darin, und es roch nach Schimmel. Oder sie hat mich geschlagen, mit dem Lineal
Weitere Kostenlose Bücher