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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich.
    »Ich habe als Kind mal eine Geschichte gelesen«, sagte er und starrte die ganze Zeit auf die Wand gegenüber. »Den größten Teil davon habe ich vergessen, aber an den letzten Satz erinnere ich mich noch genau, wahrscheinlich weil ich noch nie eine Geschichte mit einem so merkwürdigen Schluss gelesen hatte. Er lautete: ›Als alles vorüber war, hielten der König und sein Gefolge sich vor Lachen die Bäuche.‹ Findest du diesen Schluss nicht auch merkwürdig?«
    »Doch«, sagte ich.
    »Wenn ich mich nur an die Handlung erinnern könnte, aber sie fällt mir partout nicht ein. Nur noch dieser seltsame Satz. ›Als alles vorüber war, hielten der König und sein Gefolge sich vor Lachen die Bäuche.‹ Was für eine Geschichte könnte das gewesen sein?«
    Inzwischen hatten wir unseren Kaffee ausgetrunken.
    »Wir umarmten uns«, sagte er. »Aber wir schliefen nicht miteinander. Ich zog sie nicht aus. Wie früher berührte ich sie nur mit den Fingern. Ich fand, dass es so am besten war, und sie schien der gleichen Ansicht zu sein. Lange liebkosten wir uns wortlos. Nur so konnten wir einsehen, was wir einsehen mussten – dass früher alles anders verlaufen wäre. Dass wir ganz natürlich miteinander hätten schlafen können und uns vielleicht noch näher gekommen wären. Vielleicht wären wir sogar glücklich geworden. Aber dieser Zeitpunkt war verstrichen, eingefroren und versiegelt. Und niemand würde dieses Siegel je brechen können.«
    Er drehte seine leere Kaffeetasse unentwegt auf dem Unterteller herum, so lange, dass der Kellner herüberschaute. Dann stellte er die Tasse wieder ab und rief ihn herbei, um noch einen Espresso zu bestellen.
    »Ich muss ungefähr eine Stunde bei ihr gewesen sein, genau erinnere ich mich nicht mehr. Wäre ich länger geblieben, wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden«, sagte er und lächelte. »Ich verabschiedete mich von ihr und ging. Das war der endgültige Abschied. Ich wusste es, und sie wusste es auch. Als ich sie zum letzten Mal sah, stand sie mit verschränkten Armen in der Tür. Sie schien etwas sagen zu wollen, tat es aber nicht. Sie musste es gar nicht aussprechen, ich wusste es auch so. Ich fühlte mich so schrecklich … so schrecklich leer. Hohl. Die Geräusche um mich herum klangen seltsam, alles wirkte verzerrt. Benommen und ziellos streifte ich durch die Gegend. Mein Leben bisher ist völlig sinnlos gewesen, dachte ich. Ich wollte wieder zu ihrer Wohnung zurück und sie in meine Arme reißen, aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht.«
    Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann trank er seinen zweiten Espresso.
    »Es ist mir peinlich, davon zu erzählen, aber schließlich fuhr ich in die Stadt und schlief mit einer Prostituierten. Zum ersten Mal in meinem Leben. Und wahrscheinlich auch zum letzten Mal.«
    Eine Weile starrte auch ich meine Kaffeetasse an und dachte darüber nach, wie stolz ich einmal auf mich gewesen war. Ich hätte ihm gern davon erzählt, aber ich glaubte nicht, dass ich die richtigen Worte finden würde.
    »Jetzt, wo ich es dir erzählt habe, kommt es mir wie etwas vor, das einem anderem passiert ist.« Er lachte und überließ sich dann eine Weile seinen Gedanken. Auch ich sagte nichts.
    »Als alles vorüber war, hielten der König und sein Gefolge sich vor Lachen die Bäuche«, sagte er schließlich. »Sooft ich an all das denke, fällt dieser Satz mir ein. Es ist wie ein Reflex. Ich glaube, etwas sehr Trauriges hat immer auch etwas Komisches.«

    Wie ich anfangs sagte, hat diese Geschichte keine Moral. Aber sie ist ihm wirklich passiert, sie ist uns allen passiert. Darum konnte ich auch nicht lachen, als er sie mir erzählte. Ich kann es noch immer nicht.

Das Jagdmesser
    Wie flache Inseln lagen die beiden großen Plattformen vor der Küste. Sie hatten die ideale Distanz, um vom Strand aus dorthin zu schwimmen: fünfzig Stöße hinaus zu ihnen und dreißig zwischen ihnen.
    Die Plattformen waren etwa vier Meter lang, mit einem grünen Kunstrasen ausgelegt und jeweils an einer Seite mit einer Leiter aus Metall versehen.
    Die Wassertiefe betrug drei bis vier Meter, und die See war an dieser Stelle so unnatürlich klar, dass man die Ketten bis zu den Betonblöcken, an denen sie auf dem Meeresgrund verankert waren, mit den Augen verfolgen konnte. Da die Bucht durch ein vorgelagertes Korallenriff geschützt war, schaukelten die Plattformen nur sacht im Wasser und lagen friedlich, als hätten sie sich mit ihrer

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