Blinde Weide, Schlafende Frau
die Arme. »Wenn ich da bin, brauchst du keine Angst zu haben. Ehrlich gesagt, ich habe auch Angst. Genau wie du. Aber wenn wir zusammen sind, fürchte ich mich nicht. Wenn wir uns zusammentun, brauchen wir uns vor nichts zu fürchten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst es nicht. Ich bin eine Frau. Ich bin anders als du. Du verstehst überhaupt nichts.«
Es hatte keinen Sinn, sie weiter zu drängen. Sie weinte lange, und als sie endlich aufhörte, sagte sie etwas Merkwürdiges.
»Weißt du, auch wenn wir uns eines Tages trennen, werde ich immer an dich denken. Wirklich. Ich werde dich nie, nie vergessen. Ich liebe dich wirklich. Du bist der erste Mensch, den ich je geliebt habe, und es ist so schön, nur mit dir zusammen zu sein. Das weißt du doch, oder? Aber das sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du willst, dass ich dir etwas verspreche, dann tue ich es. Ich werde eines Tages mit dir schlafen, aber nicht jetzt. Erst wenn ich verheiratet bin. Ich verspreche es dir.«
»Damals hatte ich keine Ahnung, was sie mir sagen wollte«, sagte er, während er ins Kaminfeuer starrte. Der Kellner servierte das Hauptgericht und legte Holz nach. Funken sprühten auf. Am Nebentisch disputierte ein Ehepaar mittleren Alters darüber, welches Dessert sie bestellen sollten. »Was sie da gesagt hatte, war mir ein Rätsel. Zu Hause ließ ich es mir immer wieder durch den Kopf gehen und grübelte darüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Verstehst du, was sie mir sagen wollte?«
»Nun ja, wahrscheinlich, dass sie bis zu ihrer Hochzeit Jungfrau bleiben wollte. Aber wenn sie erst einmal verheiratet wäre, fiele das weg, und sie hätte dann nichts gegen eine Affäre mit dir. Also solltest du bis dahin warten.«
»Wahrscheinlich war es das. Anders kann ich’s mir auch nicht erklären.«
»Ungewöhnliche Idee«, sagte ich, »aber einigermaßen konsequent.«
Ein weiches Lächeln umspielte seinen Mund.«Du hast Recht. Es war konsequent.«
»Sie heiratet als Jungfrau. Und als Ehefrau hat sie ein Verhältnis. Wie in einem alten französischen Roman, nur ohne die ganzen Bälle und Kammerzofen.«
»Es war die einzige praktikable Lösung, die ihr einfiel«, sagte er.
»Verdammt schade«, sagte ich.
Er sah mich eine Weile an, dann nickte er langsam. »Ja«, sagte er. »Das ist es wirklich. Du hast es verstanden. Das freut mich.« Er nickte wieder. »Inzwischen kann ich auch so denken. Weil ich älter geworden bin. Damals habe ich überhaupt nicht so gedacht. Ich war noch ein Kind und hatte überhaupt noch nicht begriffen, dass jedes menschliche Herz ein bisschen anders schlägt. Darum war ich nur verblüfft. Ehrlich gesagt, zutiefst getroffen.«
»Kann ich verstehen«, sagte ich.
Eine Weile widmeten wir uns schweigend unserem Pilzgericht.
»Wie vorauszusehen, trennten wir uns schließlich«, berichtete er dann weiter. »Wir brauchten es nicht einmal auszusprechen – es war einfach zu Ende. Ganz ruhig, wie von selbst. Wahrscheinlich waren wir beide es müde, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Aus meiner Sicht war ihre Einstellung zum Leben – wie soll ich sagen – nicht sehr aufrichtig. Oder, besser gesagt, ich wünschte mir ein aufrichtigeres Leben für sie. Ich war etwas enttäuscht von ihr. Ich wollte, dass sie aufhörte, nur an Jungfräulichkeit und Ehe zu denken, und ein natürlicheres, reicheres Leben führte.«
»Ich glaube, sie konnte nicht anders«, sagte ich.
Er nickte. »Das mag stimmen.« Er schnitt sich einen Bissen von einem großen Pilz ab und führte ihn zum Mund. »Irgendwann wird man weniger flexibel, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Seit meiner Kindheit hat man mich unter Druck gesetzt – vorwärts, vorwärts. Ich habe gehorcht und mich mit aller Gewalt vorangekämpft. Ich hatte auch die Fähigkeit dazu. Aber die persönliche Entwicklung kann nicht Schritt halten. Und eines Tages ist der Bogen überspannt, und es gibt kein Zurück mehr. Zumindest was die Moral angeht.«
»Aber bei dir ist das nicht passiert, oder?«, fragte ich.
»Ich glaube, ich habe es irgendwie bewältigt«, sagte er nach einigem Nachdenken. Er legte Messer und Gabel beiseite und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Nachdem wir auseinander waren, hatte ich eine Freundin in Tokyo. Ein nettes Mädchen. Wir lebten eine ganze Weile zusammen. Meine Beziehung zu ihr war nicht so tief wie die zu Yoshiko, aber ich hatte sie wirklich gern. Wir verstanden uns und gingen sehr ehrlich miteinander um. Von ihr habe ich viel
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