Blinde Weide, Schlafende Frau
über die Menschen gelernt – über ihre Stärken und ihre Schwächen. Endlich fand ich auch Freunde und begann mich für Politik zu interessieren. Nicht dass mein Leben sich völlig geändert hätte: Ich war immer Realist und bin es wahrscheinlich noch. Ich schreibe keine Romane, und du importierst keine Möbel. So ist es eben. Aber an der Universität habe ich gelernt, dass es auf der Welt mehr als eine Realität gibt. Die Welt ist groß, die verschiedensten Wertvorstellungen existieren nebeneinander, und man muss nicht immer der Beste sein. Und so ging ich hinaus ins Leben.«
»Und hattest Erfolg.«
»Na ja«, sagte er. Er seufzte verlegen und sah mich an wie einen Komplizen. »Verglichen mit anderen aus unserer Generation habe ich ein gutes Einkommen. In praktischer Hinsicht hatte ich also schon Erfolg.«
Mehr wollte er dazu nicht sagen. Ich wusste, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende war, also schwieg ich ebenfalls und wartete, dass er sie wieder aufnahm.
»Danach habe ich Yoshiko Fujisawa sehr lange nicht gesehen«, fuhr er fort. »Sehr, sehr lange. Ich machte Examen und fing bei einer Handelsfirma an, wo ich rund fünf Jahre blieb. Ich lebte auch im Ausland. Ich war jeden Tag beschäftigt. Zwei Jahre nach dem Studium erfuhr ich, dass Yoshiko geheiratet hatte. Ihre Mutter teilte es mir mit. Ich erkundigte mich nicht, wer der Bräutigam war. Als Erstes fragte ich mich, ob sie es tatsächlich geschafft hatte, bis zur Hochzeit ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Dann wurde ich ein bisschen traurig. Am nächsten Tag war ich noch trauriger. Ich hatte das Gefühl, etwas sei unwiderruflich zu Ende gegangen. Als hätte sich eine Tür für immer hinter mir geschlossen. Aber das ist ganz natürlich, denn ich hatte sie ja wirklich geliebt. Vier Jahre waren wir zusammen gewesen, zumindest ich hatte an Heirat gedacht. Sie hatte einen großen Teil meiner Jugend geprägt, da war es ganz natürlich, dass ich traurig war. Aber ich gönnte ihr, dass sie glücklich wurde. Wirklich, so erging es mir. Nur war ich – ein wenig besorgt um sie. Sie hat auch etwas sehr Zerbrechliches.«
Der Kellner räumte unsere Teller ab. Ein Wagen mit Desserts wurde an unseren Tisch geschoben, aber ich lehnte ab und bestellte nur Kaffee.
»Ich habe spät geheiratet, mit zweiunddreißig. Also war ich noch ledig, als Yoshiko Fujisawa mich anrief. Genau, ich war achtundzwanzig, das war also vor über zehn Jahren. Ich hatte gerade bei meiner Firma gekündigt und mich selbstständig gemacht – mir von meinem Vater etwas geliehen, um ein kleines Unternehmen zu gründen. Ich war mir ganz sicher, dass der Markt für Importmöbel wachsen würde. Dennoch liefen die Geschäfte am Anfang nicht besonders gut. Lieferungen verspäteten sich, Waren blieben liegen, die Lagerkosten summierten sich, Kredite mussten zurückbezahlt werden. Offen gesagt, ich war ein bisschen überfordert, und mein Selbstvertrauen schwand. Es war vielleicht die schwerste Zeit meines Lebens. Genau in dieser Zeit rief Yoshiko mich an, eines Abends um acht Uhr. Wie sie meine Telefonnummer herausbekommen hatte, weiß ich nicht. Ich erkannte ihre Stimme sofort, wie hätte ich sie vergessen können? Sie erfüllte mich mit Wehmut. Ich war ziemlich niedergeschlagen, und es tat gut, gerade jetzt die Stimme meiner alten Freundin zu hören.«
Er starrte in die Flammen, als versuche er, Erinnerungen heraufzubeschwören. Unversehens war es im Restaurant voll geworden, und der Raum war vom Geplauder der Gäste, ihrem Gelächter und dem Klappern von Geschirr erfüllt. Die meisten waren Einheimische und riefen die Kellner beim Vornamen – Giuseppe! Paolo!
»Von wem, weiß ich nicht, aber sie wusste alles über mich, von Anfang bis Ende. Dass ich noch immer ledig war, dass ich länger im Ausland gelebt hatte, dass ich im Jahr zuvor gekündigt und mich selbstständig gemacht hatte. Alles wusste sie. Das wird schon, sagte sie, du schaffst das. Vertrau auf dich, ich weiß, du wirst Erfolg haben, wieso auch nicht? Das von ihr zu hören machte mich sehr froh. Ihre Stimme war so lieb. Ich werde es schaffen, dachte ich. Ihre Stimme gab mir mein Selbstbewusstsein zurück. Wenn ich realistisch bleibe, schaffe ich’s, dachte ich. Als wartete die Welt nur auf mich«, sagte er lachend. »Dann erkundigte ich mich nach ihr. Wen sie geheiratet habe, ob sie Kinder habe, wo sie wohne und so fort. Nein, sie habe keine Kinder. Ihr Mann sei vier Jahre älter als sie und bei einem Fernsehsender tätig,
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