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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sagte sie, als Regisseur. Dann ist er sicher sehr beschäftigt, sagte ich. Ja, sagte sie, zu beschäftigt, um Kinder zu machen. Und sie lachte. Sie wohnten in Tokyo, in einem Apartment in Shinagawa. Ich wohnte damals in Shiroganedai. Wir waren also nicht gerade Nachbarn, wohnten aber doch ziemlich nah beieinander. Seltsam, was?, sagte ich. So redeten wir – eben über alles, wie man so mit einer Freundin aus der Schulzeit redet. Manchmal war ich ein bisschen verlegen, aber es machte Spaß, sich wie alte Freunde zu unterhalten, die sich lange nicht gesehen und getrennte Wege eingeschlagen haben. Schon ewig hatte ich nicht mehr so offen sprechen können. Wir redeten und redeten. Erst als wir uns gegenseitig alles erzählt hatten, trat Schweigen ein. Es war – wie soll ich sagen – ein sehr dichtes Schweigen. Ein Schweigen, bei dem alle möglichen Bilder vor einem auftauchen, wenn man die Augen schließt.« Er betrachtete eine Weile seine Hände vor ihm auf dem Tisch. Dann sah er mir in die Augen. »Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich das Gespräch in diesem Moment beendet. Danke für den Anruf, es war schön, mal wieder mit dir zu sprechen – du weißt schon.«
    »Das wäre zumindest das Realistischste gewesen«, pflichtete ich ihm bei.
    »Aber sie legte nicht auf, sondern lud mich zu sich nach Hause ein. Komm doch vorbei, sagte sie. Mein Mann ist auf Geschäftsreise, und ich langweile mich allein. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und schwieg. Auch sie schwieg eine ganze Weile. Dann sagte sie: Ich habe mein Versprechen von damals nicht vergessen.«

    Ich habe mein Versprechen von damals nicht vergessen , sagte sie. Im ersten Moment hatte er nicht gewusst, was sie meinte. Dann fiel es ihm wieder ein: Sie hatte gesagt, sie würde mit ihm schlafen, wenn sie verheiratet sei. Allerdings hatte er diesen Satz nie als ein Versprechen betrachtet, sondern als etwas, das ihr in einem Augenblick der Verwirrung herausgerutscht war.
    Aber sie hatte es nicht aus Verwirrung gesagt. Für sie war es ein Versprechen, ein Gelöbnis.
    Für einen Moment verlor er die Orientierung und wusste nicht, was tun. Ratlos blickte er um sich, fand aber nirgendwo ein Schild, das ihm den Weg wies. Natürlich wollte er mit ihr schlafen – das war nicht die Frage. Seit ihrer Trennung hatte er es sich immer wieder vorgestellt. Auch wenn er mit anderen Frauen zusammen war, hatte er es sich insgeheim ausgemalt. Im Rückblick fiel ihm ein, dass er sie niemals nackt gesehen hatte. Was er über ihren Körper wusste, hatte er unter ihrer Kleidung ertastet. Nicht einmal die Unterwäsche hatte sie ausgezogen.
    Aber er wusste auch, wie gefährlich es für ihn war, mit ihr zu schlafen. Es konnte viel Schaden anrichten. Er wollte nichts aufrühren, was er bereits ins Dunkel der Vergangenheit verbannt hatte. Es würde ihm nicht gut tun, das spürte er. Es war zu wenig realistisch, es passte nicht zu ihm.
    Aber wie hätte er sie zurückweisen können? Es war doch wie im Märchen. Vielleicht würde er so ein Märchen nur einmal erleben. Die schöne Prinzessin, mit der er die kostbarste Zeit seines Lebens verbracht hatte, sagte: Komm zu mir, ich möchte mit dir schlafen. Und sie wohnte fast nebenan. Und dann war da noch das mythische Versprechen, das sie ihm in einem tiefen Wald zugeflüstert hatte.
    Er hielt die Augen geschlossen und schwieg, als hätte er die Sprache verloren.
    »Hallo?«, sagte sie. »… Bist du noch dran?«
    »Ja«, antwortete er. »In Ordnung, ich komme. Spätestens in einer halben Stunde bin ich bei dir. Sag mir deine Adresse.«
    Er notierte sich den Namen des Hauses, die Nummer der Wohnung und ihre Telefonnummer. Dann rasierte er sich in aller Eile, zog sich um und ging nach unten, um sich ein Taxi zu nehmen.

    »Was hättest du an meiner Stelle getan?«, fragte er mich.
    Ich schüttelte den Kopf. Diese schwierige Frage konnte ich nicht beantworten.
    Er lachte und sah in seine Kaffeetasse. »Ich hätte mich auch gern vor der Antwort gedrückt, aber das ging nicht. Ich musste mich sofort entscheiden. Hingehen oder nicht hingehen? Eins von beidem, einen Mittelweg gab es nicht. Also fuhr ich zu ihr. Noch während ich an ihre Tür klopfte, dachte ich, wie schön, wenn sie nicht zu Hause wäre. Aber sie war da. Genauso hübsch wie früher, genauso bezaubernd. Und sie duftete genau wie früher. Wir tranken etwas, sprachen von alten Zeiten und hörten alte Platten. Was meinst du, was dann geschah?«
    »Keine Ahnung«, sagte

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