Blinde Weide, Schlafende Frau
Frau in Vom Winde verweht schmökerte. Aus diesem Buch lerne sie eine Menge fürs Leben, behauptete sie. Jeden Tag ging die Sonne über dem Land auf, zog ihre Bahn über die Plattformen hinweg – gegen die Flugroute der Hubschrauber – und versank gemächlich im Meer.
Nachmittags um zwei kamen Mutter und Sohn zum Strand. Die Mutter trug stets ein kurzärmliges Kleid in gedeckten Farben und einen großen Strohhut. Der Sohn verzichtete auf eine Kopfbedeckung, trug aber eine Sonnenbrille. Sie ließen sich im Schatten der Palmen, die in der Brise rauschten, nieder und schauten untätig aufs Meer. Die Mutter saß in einem Liegestuhl, der Sohn blieb immer in seinem Rollstuhl. Wenn der Schatten wanderte, zogen sie mit. Gelegentlich schenkte die Mutter etwas aus ihrer silbernen Thermosflasche in Pappbecher, oder sie aßen ein paar Kräcker.
Mitunter brachen sie nach einer halben Stunde schon wieder auf, an anderen Tagen blieben sie drei Stunden. Beim Baden spürte ich bisweilen, wie sie mich beobachteten. Die Entfernung zwischen den Plattformen und den Palmen war recht groß, also bildete ich es mir vielleicht nur ein oder ich war überempfindlich. Doch wenn ich mich auf eine Plattform schwang, hatte ich das untrügliche Gefühl, dass ihre Augen mir folgten. Manchmal blitzte ihre Thermoskanne in der Sonne auf wie ein Messer.
Müßig zogen die Tage dahin wie die Wolken am Himmel. Einer war kaum vom anderen zu unterscheiden. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, die olivgrünen Hubschrauber flogen, ich trank Bier und schwamm nach Herzenslust.
Am letzten Nachmittag vor unserer Abreise wollte ich noch einmal eine ausgiebige Runde schwimmen. Meine Frau hielt ein Mittagsschläfchen, also machte ich mich allein auf den Weg. Es war Samstag, und am Strand hielten sich mehr Leute auf als gewöhnlich. Braun gebrannte junge Soldaten mit Bürstenschnitt und tätowierten Armen spielten Volleyball. Kinder tummelten sich am Wasser, bauten Sandburgen und kreischten bei jeder größeren Welle vor Vergnügen. Dennoch badete fast niemand, und die Plattformen schaukelten verlassen auf dem Meer. Die Sonne stand hoch am Himmel, nicht eine Wolke war zu sehen. Es war schon nach zwei, aber Mutter und Sohn waren noch nicht aufgetaucht. Ich ging ungefähr bis zur Brust ins Wasser und begann in Richtung der linken Plattform zu kraulen. Ich schwamm langsam, mit den Händen den Widerstand des Wassers prüfend, und zählte die Stöße. Durch das klare Wasser konnte ich meinen eigenen Schatten auf dem sandigen Meeresboden sehen, als wäre ich ein Vogel, der am Himmel segelt. Als ich bis vierzig gezählt hatte, schaute ich auf und sah die Plattform direkt vor mir; noch genau zehn Stöße, und ich berührte mit der Spitze der linken Hand ihren Rand. Ich ließ mich eine Weile auf dem Wasser treiben, um zu Atem zu kommen, griff dann nach der Leiter und stieg auf die Plattform.
Zu meiner Überraschung war schon jemand da – eine dicke, blonde Amerikanerin. Vom Strand aus hatte die Plattform leer gewirkt. Sie musste sie erreicht haben, als ich bereits im Wasser war. Die Frau lag auf dem Bauch und trug einen winzigen roten Bikini, der aussah wie eines der Fähnchen, die Bauern in Japan als Warnung vor Chemikalien auf ihre Felder stellen. Durch die immense Körperfülle der Frau wirkte der Bikini noch kleiner. Sie schien gerade angekommen zu sein, denn ihre Haut war noch sehr weiß.
Als ich aus dem Wasser stieg, blinzelte sie kurz und sah mich an, dann schloss sie die Augen wieder. Ich setzte mich an die entgegensetzte Seite der Plattform, ließ die Beine baumeln und sondierte die Küste.
Unter den Palmen war noch immer nichts von Mutter und Sohn zu sehen, und sonst waren sie auch nirgendwo. Ich hätte sie nicht übersehen können, denn das silberne Blitzen des Rollstuhls hätte sie auf jeden Fall verraten. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Ohne die beiden fehlte mir etwas, und der Ausblick erschien mir mangelhaft. Vielleicht waren sie abgereist und dorthin zurückkehrt, wo sie lebten – wo auch immer das sein mochte. Doch gerade noch, beim Mittagessen im Restaurant, hatte es nicht so gewirkt, als wollten sie abreisen. Bedächtig hatten sie sich das Tagesgericht schmecken lassen und danach wie immer in aller Ruhe Kaffee getrunken. Nach einem bevorstehenden Aufbruch hatte es nicht ausgesehen.
Ich legte mich ebenfalls auf den Bauch und sonnte mich vielleicht zehn Minuten lang. Dabei lauschte ich den kleinen Wellen, die gegen die Plattform
Weitere Kostenlose Bücher