Blinde Weide, Schlafende Frau
bestellten uns in dem Café neben dem Zollamt einen Kaffee, und ich übersetzte ihr die interessanteren Artikel. Dies war ein Teil unseres bescheidenen Tagesablaufs auf der Insel. Erregte etwas in der Zeitung unsere besondere Aufmerksamkeit, unterhielten wir uns darüber. Da Izumi ziemlich fließend Englisch sprach, hätte sie die Zeitung natürlich auch selbst lesen können. Allerdings habe ich sie nie eine Zeitung in die Hand nehmen sehen. »Ich mag es, wenn mir jemand vorliest«, sagte sie. »Schon in meiner Kindheit war das so. An einem hübschen Platz in der Sonne zu sitzen und vorgelesen zu bekommen, während ich in den Himmel oder aufs Meer schaue, war schon immer mein Traum. Woraus, ist dabei gar nicht so wichtig – aus der Zeitung, einem Schulbuch oder einem Roman. Bisher hat’s noch nie jemand getan, aber du machst jetzt alles wett. Außerdem hast du eine sehr gute Stimme.«
Der Himmel war vorhanden, das Meer auch. Unter so günstigen Umständen bereitete mir das Vorlesen keine Mühe. In Japan hatte ich meinem Sohn oft Bilderbücher vorgelesen. Sätze laut vorzulesen ist etwas anderes, als ihnen nur mit den Augen zu folgen. Häufig steigt dabei in meinem Kopf etwas auf – ein einzigartiger Klang, ein Anschwellen, etwas, das ich unwiderstehlich finde.
Ab und zu nippte ich an dem bitteren Kaffee in der winzigen Tasse und arbeitete mich durch den Artikel voran, indem ich ein paar Zeilen las und die englischen Sätze langsam für mich ins Japanische übersetzte, sie noch einmal durchdachte und dann zum Schluss laut vortrug. Ein paar Bienen taten sich an der Marmelade gütlich, die ein Gast vor uns verkleckert hatte. Nach einer Weile flogen sie mit Gebrumm auf, als sei ihnen plötzlich etwas eingefallen, und umschwirrten den Tisch, um sich bald ebenso unvermittelt wieder niederzulassen. Auch als ich den Artikel schon zu Ende gelesen hatte, saß Izumi, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, noch reglos da und schien darauf zu warten, dass die Geschichte weiterging. Ihre Hände bildeten ein Dreieck, indem die Fingerkuppen der linken und der rechten sich berührten. Ich ließ die Zeitung auf meine Knie sinken und betrachtete ihre langen Finger. Sie blickte mir durch sie hindurch ins Gesicht. »Und dann?«, fragte sie.
»Das war’s.« Ich faltete die Zeitung zusammen, zog mein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte mir den Kaffeesatz vom Mund. »Mehr steht zumindest nicht da.«
»Aber was wurde aus den Katzen?«
Ich sah sie an und steckte das Taschentuch wieder ein. »Keine Ahnung. Darüber wird nichts gesagt.«
Izumi verzog auf die ihr eigentümliche Weise einen Mundwinkel. Bevor sie eine Meinung äußerte (was meist die Form einer kleinen Verlautbarung annahm), presste sie stets die Lippen zusammen, als würde sie mit einem Ruck ein Laken glatt ziehen. Als ich sie kennen lernte, fand ich diese Angewohnheit bezaubernd.
»Die Zeitungen sind doch überall gleich. Was man wirklich wissen will, steht nie drin.«
Sie nahm eine Zigarette aus ihrem neuen Salem-Päckchen, steckte sie in den Mund und zündete sie mit einem Streichholz an. Sie rauchte jeden Tag genau ein Päckchen. Morgens öffnete sie es, im Laufe des Tages rauchte sie es auf. Ich war Nichtraucher. Vor fünf Jahren, als meine Frau schwanger gewesen war, hatte sie mich dazu überredet.
»Mich interessiert«, sagte sie in den schwebenden Rauch ihrer Zigarette, »wie es den Katzen anschließend ergangen ist – ob man sie getötet hat, weil sie Menschenfleisch gefressen hatten, oder ob man ihnen mitleidig die Köpfchen streichelte und sie laufen ließ? Was meinst du?«
Ich dachte nach und beobachtete dabei die gierig an der Marmelade naschenden Bienen auf dem Tisch, bis sie in meinem Kopf mit den drei Katzen verschmolzen, die an der Leiche der alten Frau nagten. Hin und wieder übertönten die fernen Schreie der Möwen das Bienengesumm. Für ein paar Sekunden verirrte sich mein Bewusstsein zwischen Wirklichem und Unwirklichem. Es fiel mir schwer, mich zu orientieren. Wo war ich? Was tat ich? Ich holte tief Luft, schaute in den Himmel und dann auf Izumi.
»Keine Ahnung.«
»Denk doch mal nach. Wenn du Bürgermeister oder Polizeichef in dieser Stadt wärst, was würdest du mit den Katzen anfangen?«
»Wie wär’s mit einer Besserungsanstalt? Man könnte sie zu Vegetariern umerziehen«, sagte ich.
Izumi lachte nicht. Sie zog an ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Die Geschichte hat mich an einen Vortrag erinnert, den ich
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