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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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deprimiert uns nur alles.«
    Ich hatte mich nie sonderlich für Griechenland interessiert, aber ich musste ihr Recht geben. Wir überschlugen, wie viel Geld wir hatten. Sie besaß zweieinhalb Millionen Yen an Ersparnissen und ich anderthalb; zusammen also vier Millionen, ungefähr vierzigtausend Dollar.
    »Davon kann man in Griechenland sicher ein paar Jahre leben«, sagte Izumi. »Der Flug kostet für uns beide etwa vierhunderttausend Yen, also bleiben 3,6 Millionen. Wenn wir zehntausend im Monat ausgeben, sind das etwa drei Jahre. Oder, vorsichtiger gerechnet, zweieinhalb. Ist doch ganz gut. Was meinst du? Komm, das machen wir. Über alles Weitere denken wir später nach.«
    Ich sah mich um. Es war früh am Morgen, und das Royal Post war voller junger Paare; wir waren wahrscheinlich die Einzigen über dreißig und bestimmt die Einzigen, die ihre Familien durch eine Affäre zerstört hatten und nun darüber sprachen, dass sie ihr Geld zusammenlegen und nach Griechenland durchbrennen könnten. Junge, Junge, dachte ich und starrte eine Weile auf meine Handflächen. War dieses seltsame Durcheinander wirklich mein Leben?
    »In Ordnung«, sagte ich. »Gehen wir nach Griechenland.«

    Am nächsten Tag wollte ich kündigen. Mein Chef hatte etwas läuten hören und gab mir netterweise vorläufig einen langen Urlaub. In der Firma schien meine Kündigung alle zu überraschen, aber niemand versuchte, mich ernsthaft davon abzuhalten. Zu kündigen war eigentlich ganz einfach, wenn man es wirklich fest vorhatte, entdeckte ich. Es gibt fast nichts auf der Welt, dessen man sich nicht entledigen kann, wenn man sich einmal dazu entschlossen hat – man könnte sogar sagen, gar nichts. Und wenn man einmal angefangen hat, Dinge loszuwerden, stellt man fest, dass man am liebsten alles los wäre. Es ist ungefähr so, als würde ein Mensch, der den größten Teil seines Geldes verspielt hat, auch noch den Rest setzen. Halbe Sachen lohnen sich nicht.
    Alles, was ich zu brauchen glaubte, passte schließlich in einen mittelgroßen Samsonite-Koffer. Izumi hatte nicht mehr Gepäck.
    Als wir über Ägypten flogen, überfiel mich plötzlich die Angst, mein Koffer könnte am Flughafen versehentlich verwechselt worden sein. Das war nicht unwahrscheinlich; blaue Samsonites wie meinen gab es zu Zehntausenden auf der Welt. Womöglich befanden sich in dem Koffer, den ich am Ziel öffnen würde, die Sachen einer anderen Person. Bei dieser Vorstellung geriet ich in Panik. Ohne meinen Koffer würde mich nichts mehr mit meinem eigenen Leben verbinden – außer Izumi. Plötzlich war mir, als wäre ich verschwunden. Dieses Gefühl hatte ich zum ersten Mal. Ich war nicht mehr ich; mein Bewusstsein hatte sich unversehens verirrt und war aus Bequemlichkeit einem anderen gefolgt, der nur so aussah wie ich. Ich war außer mir. Ich musste zurück nach Japan, in meinen wahren Körper zurückschlüpfen. Aber ich saß in einem Flugzeug und flog über Ägypten; ich konnte nicht zurück. Der Leib, in dem ich im Moment steckte, fühlte sich an wie aus Gips. Ich hätte ihn mit den Fingernägeln herunterkratzen können. Unkontrollierbar begann ich zu zittern; es ließ sich nicht abstellen. Wenn ich weiter so zitterte, würde ich zerfallen. Trotz der Klimaanlage brach mir am ganzen Körper der Schweiß aus, mein Hemd klebte mir an der Haut. Ein widerlicher Geruch ging von mir aus. Izumi hielt die ganze Zeit meine Hand; hin und wieder legte sie mir den Arm um die Schulter. Sie sagte nichts, aber sie schien zu verstehen, was mit mir vorging. Dieser Zustand hielt etwa eine halbe Stunde an. Ich wollte nur noch sterben; wollte mir einen Pistolenlauf ins Ohr stecken und abdrücken; wollte, dass mein Verstand und mein Körper gemeinsam zu Staub zerfielen.
    Doch als das Zittern nachließ, fühlte ich mich plötzlich leichter. Ich lockerte meine Schultern und überließ mich dem Fluss der Zeit. Dann sank ich in einen tiefen Schlaf. Als ich aufwachte, sah ich unter mir die tiefblaue Ägäis.

    Unser größtes Problem auf der Insel bestand darin, dass es so gut wie nichts zu tun gab. Wenn man nicht arbeitet, hat man keinen Umgang mit anderen Menschen. Es gab weder ein Kino noch Tennisplätze. Auch keine lesenswerten Bücher. So überstürzt waren wir aus Japan abgereist, dass ich ganz vergessen hatte, mir Bücher mitzunehmen. Nachdem ich die beiden Romane, die ich am Flughafen gekauft hatte, und Izumis Tragödien von Aischylos zweimal gelesen hatte, hatte ich nichts mehr zu

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