Blinde Weide, Schlafende Frau
Stadtteil Unoki in Tokyo gelebt. Unsere Wohnung war nicht groß, eine normale, funktionale Dreizimmerwohnung. Wir hatten ein Schlaf- und ein Kinderzimmer, und der dritte Raum diente mir mehr oder weniger als Arbeitszimmer. Die Aussicht war hübsch, und es war ruhig. An den Wochenenden waren wir drei oft am Ufer des Tamagawa spazieren gegangen. Im Frühling blühten die Kirschbäume, die das Ufer säumten. Ich setzte meinen Sohn auf mein Fahrrad, und wir fuhren zum Training der zweiten Mannschaft der Giants.
Ich war bei einer Graphikfirma mittlerer Größe beschäftigt, die auf das Layout von Büchern und Zeitschriften spezialisiert war. Graphikdesigner hört sich aufregender an, als es ist, denn die Arbeit ist eigentlich eher praktisch als chic und schöpferisch. Aber die Stelle gefiel mir, und ich war zufrieden. Oft ging es ein bisschen zu hektisch zu, und mehrmals im Monat musste ich die Nacht durcharbeiten; einige meiner Pflichten fand ich todsterbenslangweilig. Ansonsten herrschte in der Firma eine verhältnismäßig entspannte, freie Atmosphäre. Ich war schon so lange dabei, dass ich mir meine Aufgaben aussuchen und auch mal eine Meinung äußern konnte. Weder hatte ich einen unausstehlichen Chef noch unangenehme Kollegen. Die Bezahlung war auch nicht schlecht. Wahrscheinlich hätte ich bis ans Ende meiner Tage dort weitergearbeitet, wenn nicht etwas dazwischengekommen wäre. Mein Leben wäre sicherlich in ruhiger Bahn auf seine Bestimmung zugeflossen, wie die Moldau (beziehungsweise das namenlose Wasser, aus dem die Moldau besteht) dem Meer. Wenn ich nicht auf halbem Wege Izumi begegnet wäre.
Izumi war zehn Jahre jünger als ich. Wir hatten uns bei einer Arbeitsbesprechung kennen gelernt und waren uns auf den ersten Blick sympathisch gewesen. So etwas geschieht nicht oft im Leben, aber manchmal eben doch. Danach trafen wir uns noch zwei, drei Mal aus beruflichem Anlass; ich suchte sie in ihrer Firma auf, oder sie kam in meine. Wir waren jedoch nie lange zusammen und auch nie allein. Über persönliche Dinge wurde nicht gesprochen. Als der Auftrag abgeschlossen war, überkam mich plötzlich eine furchtbare Einsamkeit. Dieses irrationale Gefühl, als wäre mir etwas Entscheidendes geraubt worden, hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Ich glaube, Izumi empfand das Gleiche. Eine Woche später rief sie mich wegen einer Kleinigkeit im Büro an, und wir plauderten ein bisschen. Ich machte ein paar Scherze, und sie lachte. Dann fragte ich sie, ob sie Lust habe, etwas mit mir zu trinken. Wir gingen in eine kleine Bar und redeten. Worüber, weiß ich nicht mehr. Aber wir hatten erstaunlich viel Gesprächsstoff und kamen vom Hundertsten ins Tausendste. Wir hätten ewig so weiterreden können. Was sie sagte, war für mich anschaulich, und umgekehrt fiel es mir überraschend leicht, Dinge, die ich anderen nie gut erklären konnte, präzise darzustellen.
Wir waren beide verheiratet und nicht unzufrieden mit unserem Familienleben. Beide liebten und schätzten wir unsere Ehepartner. Es kommt wirklich nicht oft vor, dass man einem Menschen begegnet, dem man seine Empfindungen so vollständig mitteilen kann; das ist ein Glücksfall, der an ein Wunder grenzt. Gewiss beenden die meisten ihr Leben, ohne einem solchen Menschen zu begegnen. Vermutlich hat es gar nicht so viel mit dem zu tun, was man gemeinhin Liebe nennt; eher war es ein Zustand vollkommener Empathie.
Danach trafen wir uns öfter auf einen Drink und um zu reden. Da ihr Mann aus beruflichen Gründen häufig spät nach Hause kam, konnte sie verhältnismäßig frei über ihre Zeit verfügen. Wenn wir uns unterhielten, verging die Zeit wie im Flug, sodass wir meist gerade noch die letzte Bahn erwischten. Der Abschied von ihr fiel mir zunehmend schwerer. Wir hatten einander nie alles gesagt.
Irgendwann schliefen wir zusammen. Keiner hatte den anderen verführt, es hatte sich ganz natürlich so ergeben. Beide hatten wir zum ersten Mal seit der Heirat eine sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe. Aber wir hatten keine Schuldgefühle, aus dem einfachen Grunde, dass wir es tun mussten. Sie auszuziehen, ihre Haut zu streicheln, sie zu umarmen, in sie einzudringen und zu ejakulieren, all das waren organische Bestandteile unserer Gespräche. Da es sich so selbstverständlich abspielte und ohne jedes Schuldgefühl, gab es auch keine leidenschaftliche sexuelle Lust; es waren angenehme, ruhige Akte, frei von Heuchelei. Das Schönste daran waren die Gespräche, die wir
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