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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zu hören bekam, als ich auf der katholischen Schule in die siebte Klasse kam. Hab ich dir erzählt, dass ich sechs Jahre lang auf eine ziemlich strenge katholische Schule gegangen bin? Aber davor war ich auf einer ganz normalen staatlichen. Eine der oberen Nonnen zitierte alle Neuen gleich nach der Aufnahmefeier in die Aula, um uns einen Vortrag über die katholische Lehre zu halten. Sie sprach über alles Mögliche, aber das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist eine Geschichte über jemanden, der mit einer Katze zusammen auf eine einsame Insel verschlagen wird.«
    »Klingt interessant«, sagte ich.
    »Nach einem Schiffbruch wird die Person an den Strand einer einsamen Insel gespült. Sie und die Katze haben es als Einzige ins Rettungsboot geschafft. Auf der Insel gibt es nichts zu essen. Im Rettungsboot sind nur Wasser und Zwieback für etwa zehn Tage für eine Person. ›Stellt euch jetzt alle einmal vor, ihr wärt selbst in dieser Lage‹, sagte diese Nonne. ›Macht die Augen zu und stellt es euch bildlich vor. Ihr seid mit einer Katze auf einer einsamen Insel und habt fast nichts zu essen und zu trinken. Wenn die Vorräte ausgehen, werdet ihr sterben. Macht euch das klar. Ihr werdet verhungern und verdursten. Was würdet ihr in einer solchen Situation tun? Eure mageren Vorräte mit der Katze teilen? Nein, das dürft ihr auf keinen Fall. Das wäre falsch. Ihr dürft eure Nahrung nicht mit der Katze teilen. Als von Gott auserwählte Wesen besitzt ihr einen Wert, den die Katze nicht hat. Deshalb müsst ihr den Zwieback alleine essen‹, erklärte sie mit todernstem Gesicht. Die Geschichte hat mich ziemlich entsetzt. Wie kann jemand Kindern, die neu auf einer Schule sind, so was erzählen? Ich war völlig entgeistert und fragte mich, wo ich da hingeraten war.«

    Izumi und ich lebten in einer winzigen Ferienwohnung mit Küche auf einer kleinen griechischen Insel. Da Nebensaison war und die Insel ohnehin keine Ströme von Touristen anzog, kostete sie nicht viel. Vorher hatten weder Izumi noch ich den Namen der Insel je gehört. Sie lag nahe der türkischen Grenze, und an klaren Tagen konnte man die blauen Berge an der Küste sehen. Ein gängiger Witz auf der Insel lautete: Woran merkt man, dass Westwind herrscht? Am Kebab-Geruch.
    Aber es stimmte, die türkische Küste war näher als die nächste griechische Insel.
    Auf dem Platz am Hafen stand die Statue eines Helden des griechischen Unabhängigkeitskampfes. Er hatte auf dem Festland zur Rebellion aufgerufen und kühn einen Aufstand gegen die Türken angezettelt, die die Insel besetzt hielten, wurde aber gefangen genommen und gepfählt. Die Türken stellten einen angespitzten Pfahl auf dem Marktplatz auf und setzten den bedauernswerten Helden nackt darauf. Ganz langsam drang der Pfahl durch seinen Anus in den Körper, bis er schließlich aus dem Mund wieder austrat. Es muss Stunden gedauert haben, bis der Mann tot war. Die Statue stand angeblich genau an der bewussten Stelle. Als sie neu gewesen war, hatte die Bronze sicher einen prachtvollen Glanz gehabt, aber mittlerweile hatten die salzige Luft, Vogelkot und der Zahn der Zeit die Gesichtszüge des Helden bis zur Unkenntlichkeit zerfressen. Die Bewohner der Insel würdigten die schäbige Statue kaum eines Blickes, und auch der bronzene Held wirkte, als kümmere ihn weder die Insel noch das Land, ja nicht einmal die Welt.
    Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir in dem Café vor der Statue Kaffee oder Bier tranken und unsere Blicke über die Schiffe im Hafen, die Möwen und die fernen Berge an der türkischen Küste schweifen ließen. Wir saßen buchstäblich am Rande Europas. Der Wind wehte wie am Rande der Welt, die Wellen erhoben sich wie am Rande der Welt, und es roch wie am Rande der Welt. Es herrschte eine Atmosphäre von Unwandelbarkeit, der man nicht entrinnen konnte. Sie gab mir das Gefühl, ich würde von einem vagen, seltsam gütigen fremden Etwas lautlos in eine fremde Sphäre eingesogen. Mitunter war auch ein Hauch davon in den Gesichtern, den Augen und der Hautfarbe der Menschen zu spüren, die sich im Hafen versammelten.
    Oftmals konnte ich es kaum fassen, dass ich selbst Teil dieser Szene war. Sosehr ich mich auch auf die Landschaft konzentrierte und ihre Luft einatmete, ich konnte keine organische Verbindung zwischen mir und meiner Umgebung herstellen. Was machst du eigentlich hier?, fragte ich mich.
    Bis vor zwei Monaten hatte ich noch mit meiner Frau und meinem vierjährigen Sohn im

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