Blinde Weide, Schlafende Frau
so an dich erinnern wird, wenn er erwachsen ist?«, sagte Izumi. »Wie du dich an die Katze erinnerst, die eines Tages auf die Kiefer stieg und dann für immer verschwunden war.«
Ich lachte. »Kann gut sein.«
Izumi drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und seufzte. »Komm, lass uns nach Hause gehen und miteinander schlafen, ja?«, sagte sie.
»Jetzt, am Vormittag?«, sagte ich.
»Warum auch nicht?«
»Ja, warum schließlich nicht«, sagte ich.
Als ich in dieser Nacht aufwachte, lag Izumi nicht neben mir. Ich schaute auf die Uhr am Kopfende; es war halb eins. Ich knipste die Nachttischlampe an und schaute mich um. Es herrschte eine maßlose, künstliche Stille im Raum, als hätte sich, während ich schlief, jemand ins Zimmer geschlichen und alles mit einem Staub bestreut, der jedes Geräusch aufsaugt. Im Aschenbecher lagen zwei ausgedrückte Salemkippen, daneben eine leere, zerknüllte Packung. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer, aber dort war Izumi nicht, auch nicht in der Küche und nicht im Bad. Ich öffnete die Wohnungstür und spähte in den Vorgarten. Aber dort standen nur, mit Mondlicht übergossen, die beiden weißen Gartenstühle aus Plastik. Ein herrlicher Vollmond schien. »Izumi«, rief ich leise, aber es kam keine Antwort. Ich rief noch einmal, diesmal lauter. Mein Herz pochte, und die Stimme klang nicht wie die meine; sie war zu laut und der Tonfall irgendwie unnatürlich. Noch immer kam keine Antwort. Eine leichte Brise vom Meer zauste die Gräser. Ich schloss die Tür und ging in die Küche zurück. Um mich zu beruhigen, schenkte ich mir ein halbes Glas Wein ein.
Das helle Mondlicht drang durch die Fenster und erzeugte seltsame Schatten auf dem Boden und an den Wänden; der Raum erschien mir wie das symbolhafte Bühnenbild für ein avantgardistisches Theaterstück. Da fiel mir plötzlich etwas ein: In genauso einer wolkenlosen Vollmondnacht war die Katze in der Kiefer verschwunden. Damals hatte ich nach dem Abendessen allein auf der Veranda gesessen und zur Kiefer hinaufgestarrt. Mit zunehmender Dunkelheit war das Mondlicht auf unheimliche Weise stärker und heller geworden. Aus irgendeinem Grund konnte ich damals den Blick nicht von der Kiefer lösen. Dann und wann meinte ich, zwischen den Ästen im Mondlicht die Augen der Katze funkeln zu sehen, aber das bildete ich mir vielleicht nur ein. Denn das Mondlicht zeigt uns mitunter Dinge, die nicht sichtbar sein können.
Ich zog einen dicken Pullover und Blue Jeans an. Dann steckte ich das Kleingeld ein, das auf dem Tisch lag, und ging nach draußen. Vielleicht hatte Izumi nicht schlafen können und machte noch einen nächtlichen Spaziergang. Die Umgebung war merkwürdig still, nichts regte sich. Der Wind hatte sich völlig gelegt. Nur der feine Kies knirschte unter meinen Turnschuhen; es klang übertrieben wie der Soundtrack eines Films. Sonst war nichts zu hören. Ich nahm an, dass Izumi zum Hafen gegangen war; wo sollte sie auch sonst hingegangen sein. Zum Hafen gab es nur einen Weg, also konnten wir uns nicht verfehlen. Alle Häuser, die ihn säumten, waren dunkel, aber der Mondschein verwandelte den Boden in eine silberne Fläche. Es sah aus wie auf dem Meeresgrund.
Als ich die Strecke zum Hafen etwa zur Hälfte zurückgelegt hatte, war mir, als hörte ich leise Musik. Ich blieb stehen. Zuerst hielt ich es für eine akustische Täuschung, für so etwas wie Ohrensausen, wenn der Luftdruck sich ändert. Doch als ich genauer hinhörte, vernahm ich eine Melodie. Ich horchte angestrengt und mit angehaltenem Atem, als würde ich mich in die Dunkelheit meines eigenen Körpers versenken. Kein Zweifel, es war Musik. Jemand spielte tatsächlich ein Instrument. Es waren lebendige, natürliche Töne, die nicht über einen Verstärker oder Lautsprecher kamen. Ihre Schwingungen drangen durch die transparente Atmosphäre der Nacht an mein Ohr. Aber was für ein Instrument war das? Dieses mandolinenähnliche Instrument, das Anthony Quinn in Alexis Zorbas spielt – eine Buzuki. Aber wo sollte hier mitten in der Nacht jemand Buzuki spielen?
Die Klänge schienen von dem Dorf auf dem Hügel zu kommen, zu dem wir jeden Tag hinaufstiegen. Ich blieb an der Wegkreuzung stehen und überlegte einen Moment, was ich tun sollte. Welchen Weg sollte ich einschlagen? Wie ich hatte bestimmt auch Izumi an dieser Stelle die Musik gehört, und dann war sie ihr vermutlich gefolgt. Durch den Mond war es taghell, und die Melodie hatte etwas, das zu Herzen ging.
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