Blinde Weide, Schlafende Frau
lesen. Der Kiosk am Hafen führte ein paar englische Paperbacks für Touristen, aber es war fast nichts darunter, das ich lesen wollte. Für einen leidenschaftlichen Leser wie mich ein ziemliches Dilemma. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich in Büchern schwelgen würde, sollte ich einmal die Zeit dazu haben. Doch jetzt, wo ich massenhaft Zeit hatte, hatte ich ironischerweise keine Bücher.
Izumi hatte sich ein Neugriechisch-Lehrbuch mitgebracht und lernte. Sie hatte eine Tabelle griechischer Verben angefertigt, die sie immer bei sich trug und bei jeder Gelegenheit aufsagte wie eine Zauberformel. Beim Einkaufen radebrechte sie mit den Ladenbesitzern auf Griechisch, auch mit den Kellnern im Café. So lernten wir wenigstens einige Menschen kennen. Während sie Griechisch lernte, polierte ich mein eingerostetes Französisch auf. Ich dachte, es könnte sich als nützlich erweisen, denn immerhin waren wir in Europa. Aber auf dieser abgelegenen Insel gab es keinen einzigen Menschen, der Französisch sprach. In der Stadt kam man einigermaßen mit Englisch über die Runden; einige ältere Leute verstanden auch Italienisch oder Deutsch. Aber Französisch war völlig nutzlos.
Da wir alle Zeit der Welt hatten, gingen wir viel spazieren. Wir versuchten im Hafen zu angeln, fingen aber trotz aller Bemühungen keinen einzigen Fisch. Nicht, weil es keine Fische gegeben hätte, aber das Wasser war einfach zu klar, und die Fische konnten vom Haken über die Angelschnur bis hinauf zum Gesicht des Anglers alles sehen. Es hätte also schon ein sehr dummer Fisch sein müssen, der sich unter diesen Umständen fangen ließ. Mit einem Skizzenblock und Farben, die ich im Schreibwarengeschäft gekauft hatte, wanderte ich über die Insel und zeichnete Landschaft und Menschen. Izumi begleitete mich, begutachtete meine Bilder und prägte sich griechische Konjugationsformen ein. Oft war ich beim Zeichnen von Einheimischen umringt. Die Porträts, die ich manchmal zum Zeitvertreib von ihnen anfertigte, wurden mit Begeisterung aufgenommen. Wenn ich eine Zeichnung verschenkte, spendierte der Porträtierte uns meist ein Bier. Einmal schenkte ein Fischer uns einen ganzen Tintenfisch.
»Du könntest davon leben«, sagte Izumi. »Du bist gut. Außerdem sind japanische Künstler hier selten und sicher besonders begehrt.«
Ich lachte, aber Izumis Miene war völlig ernst. Ich stellte mir vor, wie ich über griechische Inseln ziehen und Leute porträtieren würde, dafür ein paar Münzen bekäme oder zum Bier eingeladen würde. Vielleicht gar keine so schlechte Idee. Immerhin hatte ich einmal eine Kunsthochschule besucht.
»Und ich könnte Touren für Japaner organisieren – vielleicht kommen mit der Zeit ein paar mehr. Schließlich brauchen wir was zu essen. Dafür müsste ich aber zuerst richtig Griechisch lernen.«
»Meinst du denn, wir könnten wirklich zweieinhalb Jahre leben, ohne etwas zu tun?«, fragte ich sie.
»Wenn nichts passiert«, erwiderte sie. »Wenn wir nicht ausgeraubt oder krank werden, könnten wir schon so lange durchhalten, glaube ich. Aber wir sollten vielleicht doch auf unvorhergesehene Fälle vorbereitet sein.«
Ich erzählte Izumi, dass ich bisher kaum je bei einem Arzt gewesen sei.
Izumi starrte mich einen Moment lang an. Dann presste sie die Lippen aufeinander und verzog einen Mundwinkel.
»Und wenn ich schwanger würde?«, fragte sie. »Was dann? Auch bei der besten Verhütung kann einmal etwas schief gehen. Dann wäre unser Geld schnell weg.«
»In dem Fall sollten wir wohl nach Japan zurückkehren«, sagte ich.
»Du begreifst es anscheinend nicht«, sagte Izumi ruhig. »Wir können nie wieder nach Japan zurück.«
So lernte Izumi weiter Griechisch, und ich zeichnete weiter. Es war die ruhigste Zeit meines Lebens. Wir aßen einfach und achteten darauf, immer den billigsten Wein zu trinken. Jeden Tag stiegen wir auf einen nahe gelegenen Hügel mit einem kleinen Dorf, von wo man auch weiter entfernte Inseln sehen konnte, und wenn man die Augen anstrengte, sogar einen türkischen Hafen. Dank der frischen Luft und der regelmäßigen Bewegung waren wir gut in Form.
Nach Sonnenuntergang war kein Laut mehr zu hören. In dieser Stille liebten Izumi und ich uns auf unsere ruhige Weise; danach unterhielten wir uns. Nun brauchten wir nicht mehr an die letzte Bahn zu denken, nicht meine Frau oder ihren Mann zu belügen. Das war wunderbar. Unterdessen wurde es Herbst, dann Winter. Die stürmischen Tage und die weißen
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