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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schreiben?«
    Sie biss sich auf die Lippe und schwieg einen Moment.
    »Also, frag doch mal mich. Vielleicht hilft das ein bisschen.«
    »Als Expertin für arme Tanten?«
    »Genau«, sagte sie. »Los, frag schon. Vielleicht bin ich nie wieder in der Stimmung, etwas über arme Tanten zu erzählen.«
    Mir fiel nicht sofort ein, wo ich ansetzen sollte.
    »Manchmal frage ich mich, welche Art von Menschen zu armen Tanten werden«, sagte ich. »Ob man als arme Tante geboren wird oder ob es besondere arme-Tanten-mäßige Umstände gibt, wie ein Ameisenlöwe, der in seinem Trichter an der Ecke lauert, die Passanten zerlegt und auf der anderen Seite als arme Tanten wieder ausspuckt.«
    Sie nickte mehrmals, wie um zu sagen, das sei eine gute Frage.
    »Beides läuft auf das Gleiche hinaus«, sagte sie.
    »Auf das Gleiche?«
    »Ja, schau doch mal, eine arme Tante kann eine arme-Tanten-artige Kindheit oder Jugend haben. Oder vielleicht auch nicht. Beides ist möglich. Auf der Welt gibt es Millionen von Ursachen für Millionen von Wirkungen, Millionen Gründe zu leben und Millionen Gründe zu sterben. Millionen Gründe, um Gründe zu finden. Mit nur einem Anruf bekommt man bergeweise Gründe geliefert. Aber das ist es ja nicht, wonach du suchst, oder?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«
    »Sie existiert. Mehr nicht«, sagte sie. »Das musst du erkennen und akzeptieren. Die Gründe oder Ursachen spielen keine Rolle. Es gibt sie einfach, die arme Tante – dass es sie gibt, ist bereits der Grund. Gerade so, wie auch wir hier existieren, ohne besondere Gründe oder Ursachen.«
    Lange saßen wir am Ufer des Teichs, ohne etwas zu sagen oder uns zu bewegen. Das klare Herbstlicht warf leichte Schatten auf ihr Profil.
    »Also – willst du mich nicht fragen, was ich auf deinem Rücken sehe?«, fragte sie.
    »Was siehst du auf meinem Rücken?«
    »Gar nichts.« Sie lächelte. »Ich sehe nur dich.«
    »Danke«, sagte ich.

    Natürlich wirft die Zeit alle Menschen einmal um. So wie der Kutscher, der sein altes Pferd auf der Straße zu Tode prügelt. Doch weil die Schläge, die wir bekommen, so leicht sind, spüren nur wenige, dass sie überhaupt geschlagen werden.
    Aber an einer armen Tante können wir wie durch die Scheibe eines Aquariums das Wüten der Zeit beobachten. In dem engen Glaskasten presst die Zeit die arme Tante aus wie eine Orange, bis zum letzten Tropfen.
    Was mich anzieht, ist diese Vollkommenheit an ihr.
    Bis zum allerletzten Tropfen!

    Ja, Vollkommenheit. Sie ist der Kern der Existenz der armen Tante. Vollkommenheit, wie bei einer Leiche, die in einen Gletscher eingeschlossen ist, in einem wundervollen Gletscher, dessen Eis rostfreiem Stahl gleicht. Nur etwa zehntausend Jahre Sonnenschein könnten diesen Gletscher zum Schmelzen bringen. Aber da natürlich keine arme Tante zehntausend Jahre lang lebt, lebt sie mit ihrer Vollkommenheit, stirbt mit ihrer Vollkommenheit und wird mit ihrer Vollkommenheit begraben.
    Die arme Tante in ihrer Vollkommenheit befindet sich unter der Erde.
    Nach zehntausend Jahren schmilzt der Gletscher vielleicht, und die Vollkommenheit taucht an der Erdoberfläche auf. Sicherlich ist alles auf der Erde dann ganz anders, aber sollte es noch Hochzeiten geben, wird vielleicht die Vollkommenheit, welche die arme Tante zurückgelassen hat, ihren Platz bei einer solchen Hochzeit einnehmen, mit untadeligen Tischmanieren das Mahl beenden, sich erheben und von Herzen kommende Glückwünsche aussprechen.
    Aber egal. Schließlich würde sich das erst im Jahre 11980 ereignen.
     
4

    Im Spätherbst verließ die arme Tante meinen Rücken.
    Wegen eines Auftrags, der, wie mir gerade noch eingefallen war, bis zum Winter erledigt werden musste, stieg ich mit meiner armen Tante in einen Vorortzug. Es war früher Nachmittag, und die Fahrgäste ließen sich an einer Hand abzählen. Da ich lange nicht außerhalb der Stadt gewesen war, schaute ich unermüdlich aus dem Fenster, ohne der Landschaft überdrüssig zu werden. Die Luft war prickelnd und klar, die Berge wirkten unnatürlich blau, und die Strecke war hier und da von Sträuchern voller roter Beeren gesäumt.
    Auf dem Rückweg saß mir eine dünne Frau um die dreißig mit zwei Kindern gegenüber. Das ältere Mädchen, das links neben ihrer Mutter saß, trug ein dunkelblaues Sergekleid, eine Kindergartenuniform, und einen nagelneuen Filzhut mit einem roten Band. Es war ein hübsches Hütchen mit einer schmalen runden Krempe. Rechts von der Frau saß ein

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