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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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müsste jetzt schon sechzig sein, wenn sie noch lebt.«

    So wurden alle möglichen Stadtteilkarten und Sitzordnungen von Hochzeitsfeiern heraufbeschworen. Mein Rücken wurde zum Mittelpunkt des sich ständig erweiternden Kreises um die arme Tante.
    Doch gleichzeitig zogen sich meine Freunde einer nach dem anderen von mir zurück. Ich kam mir wie ein Kamm vor, der seine Zinken verliert.
    »Er selbst ist ja nicht übel«, hieß es über mich. »Aber ich habe wirklich keine Lust, jedes Mal wenn wir uns treffen, meiner deprimierenden Mutter gegenüberzusitzen (oder meiner alten Hündin, die an Speiseröhrenkrebs gestorben ist, oder meiner Lehrerin mit ihren Brandnarben).«
    Allmählich kam ich mir vor wie ein Zahnarztstuhl. Niemand gab mir die Schuld; niemand hasste mich, und doch mieden mich alle. Wenn ich zufällig jemandem begegnete, fand er umgehend eine Ausrede, um gleich wieder verschwinden zu können. »In letzter Zeit fühle ich mich nicht frei, wenn ich mit dir zusammen bin«, gab ein Mädchen zu, obwohl es ihr sichtlich schwer fiel. »Es hätte weniger Probleme damit, wenn du einen Schirmständer oder so was auf dem Rücken hättest …«
    Einen Schirmständer.
    Und wenn schon, dachte ich. Schließlich war ich noch nie sehr gesellig gewesen, und mit einem Schirmständer auf dem Rücken wollte ich ganz bestimmt nicht leben.
    Anstelle meiner Freunde interessierten sich jetzt die Medien für mich, vor allem die Wochenzeitschriften. Jeden zweiten Tag tauchte jemand auf, um Fotos von mir und der Tante zu machen. Wenn sie nicht deutlich zu sehen war, wurden sie sauer und überschütteten mich mit absurden Fragen. Allerdings erhoffte ich mir von den Interviews und Artikeln irgendeine neue Entdeckung oder Entwicklung, was die arme Tante betraf, aber nichts ergab sich. Nur meine Erschöpfung nahm von Tag zu Tag zu.
    Einmal traten wir im Morgenmagazin auf. Sie holten mich vor sechs Uhr aus dem Bett, brachten mich zum Sender und gaben mir einen meuchelmörderischen Kaffee zu trinken. Irgendwelche dubiosen Leute liefen umher und taten dubiose Dinge. Ich war schon drauf und dran, einfach abzuhauen, da kam ich an die Reihe. Bei ausgeschalteter Kamera war der Moderator ein unverschämter, arroganter, oberflächlicher Typ, der seine Mitarbeiter drangsalierte. Kaum leuchtete aber das rote Kamera-Lämpchen auf, verwandelte er sich in einen freundlichen, intelligenten, sympathischen Herrn mittleren Alters.
    »Hallo und guten Morgen, hier ist unsere Sendung ›Was es auf der Welt nicht alles gibt‹«, schwatzte er in die Kamera. »Wir dürfen heute Herrn … bei uns begrüßen, der plötzlich eine arme Tante auf seinem Rücken hatte. Es gibt nicht viele Menschen, die eine arme Tante auf dem Rücken haben. Wir möchten von unserem Gast erfahren, wie es dazu kam und welche besonderen Schwierigkeiten sich daraus für ihn ergeben.« An mich gewandt: »Ist es sehr unbequem für Sie?«
    »Eigentlich ist es weder sehr unbequem noch schwierig«, sagte ich. »Sie ist nicht schwer, und sie braucht auch nichts zu essen und zu trinken.«
    »Bekommen Sie denn keinen steifen Hals?«
    »Nein.«
    »Seit wann befindet sie sich auf Ihrem Rücken?«
    Ich berichtete kurz von dem Platz mit den Einhörnern aus Bronze, aber der Moderator verstand nicht, was ich sagen wollte.
    »Hm, also…« Er räusperte sich. »Die arme Tante lauerte Ihnen an dem Teich auf, an dessen Ufer Sie saßen, und hat dann von Ihrem Rücken Besitz ergriffen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Du meine Güte, dachte ich, wieso habe ich mir darauf nur eingelassen? Die Leute wollen doch nur Witze oder Horrorgeschichten hören.
    »Die arme Tante ist kein Geist. Sie lauert nirgendwo und ergreift auch von niemandem Besitz. Sie ist eigentlich nur ein Ausdruck«, erklärte ich genervt. »Ein Begriff.«
    Niemand sagte etwas.
    »Im Grunde sind Worte wie Elektroden, die mit dem Bewusstsein verbunden sind. Wenn man den gleichen Reiz immer wieder sendet, muss eine Reaktion darauf entstehen. Natürlich ist die Art der Reaktion bei jedem Einzelnen anders, und in meinem Fall besteht sie in einer unabhängigen Existenz. Es ist, als wäre einem plötzlich die Zunge im Mund angeschwollen. Was auf meinem Rücken sitzt, ist im Grunde nur der Ausdruck arme Tante . Er hat keine Bedeutung und keine Gestalt – man könnte sagen, es ist eine Idee oder ein Zeichen.«
    Der Moderator machte ein unbehagliches Gesicht.
    »Ohne Bedeutung, ohne Form, sagen Sie, aber wir sehen die Gestalt auf Ihrem Rücken doch

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