Blinde Weide, Schlafende Frau
etwa dreijähriger Junge. Auf den ersten Blick war nichts an ihnen außergewöhnlich, ganz normale Gesichter, ganz normale Aufmachung. Die Mutter hatte eine große Tasche bei sich und sah müde aus. Allerdings sehen die meisten Mütter müde aus. Ich schenkte ihnen kaum Beachtung. Auch als sie zugestiegen waren und sich auf die Plätze schräg gegenüber setzten, hatte ich nur flüchtig aufgeblickt und meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Taschenbuch gerichtet.
Bald darauf drang jedoch die Stimme des kleinen Mädchens an meine Ohren. Sie hatte eine drängende, anklagende Schärfe.
»Sei still. Ich hab dir doch gesagt, du sollst in der Bahn leise sein«, hörte ich die Mutter sagen. Sie hatte auf der Tasche auf ihren Knien eine Zeitschrift liegen und las begierig darin.
»Aber Mama, mein Hut …«, jammerte das Mädchen.
»Sei still«, fuhr die Frau sie an.
Das Mädchen wollte noch etwas sagen, schluckte es jedoch hinunter und schwieg. Der Junge, der dicht neben der Mutter saß, hatte sich den Hut seiner Schwester geschnappt und boxte auf ihn ein. Das Mädchen streckte die Arme danach aus und versuchte, ihn dem Jungen wieder wegzunehmen, aber er drehte sich weg, entschlossen ihn nicht herzugeben.
»Er macht meinen Hut kaputt«, sagte das Mädchen, den Tränen nah.
Die Mutter warf einen entnervten Blick auf den Jungen und wollte ihm den Hut wegnehmen, aber der Junge umklammerte den Hut mit beiden Händen und ließ nicht los. Die Mutter gab einfach auf. »Lass ihn eben ein bisschen damit spielen«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Dann hört er von selbst auf.« Das Mädchen machte ein Gesicht, als überzeuge sie das nicht, widersprach aber auch nicht. Die Lippen fest zusammengepresst, starrte sie auf den Hut in den Händen ihres Bruders. Die Mutter wandte sich sofort wieder ihrer Zeitschrift zu. Wie durch die Gleichgültigkeit seiner Mutter bestärkt, fing der Junge nun an, an dem roten Band herumzuzerren. Er wusste genau, dass er damit seine Schwester ärgern konnte. Er tat es aus reiner Niedertracht. Sogar ich war etwas erbost und wäre am liebsten aufgesprungen, um ihm den Hut aus der Hand zu reißen.
Das Mädchen starrte seinen Bruder die ganze Zeit schweigend an. Es schien nachzudenken. Plötzlich stand sie auf, versetzte ihrem Bruder eine schallende Ohrfeige und nutzte seine Verblüffung, um ihm den Hut zu entreißen. Eine rasante Aktion. Da sich das Ganze innerhalb von Sekunden abgespielt hatte, dauerte es ungefähr einen Atemzug, bis Mutter und Bruder begriffen, was geschehen war. Der Junge fing laut zu plärren an, und im gleichen Moment schlug die Mutter dem Mädchen auf das nackte Knie. Dann streichelte sie dem Jungen die Wange und versuchte, ihn zu beruhigen. Der Junge hörte nicht auf zu weinen.
»Aber Mama, mein Hut …«, sagte das Mädchen.
»Wer im Zug so ein Theater macht, ist nicht mein Kind«, sagte die Mutter.
Das Mädchen biss sich auf die Lippe und starrte mit gesenktem Kopf auf seinen Hut.
»Setz dich da drüben hin«, sagte die Mutter und zeigte auf den freien Sitz neben mir. Das Mädchen bemühte sich, den ausgestreckten Finger ihrer Mutter zu übersehen, aber der Finger deutete weiter auf den Platz links neben mir, als sei er zu Eis erstarrt. »Geh, du bist nicht mehr mein Kind.«
Ergeben nahm das Mädchen seinen Hut und seine Tasche, stand auf, trottete über den Gang und setzte sich mit gesenktem Kopf neben mich. Dann strich sie mit den Fingern über die Krempe des Hutes auf ihrem Schoß. Er ist schuld, dachte sie offensichtlich. Er wollte das Band von meinem Hut abreißen. Sie ließ den Kopf hängen, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Es war schon fast Abend. Das gelbe Scheinwerferlicht der Autos umtanzte uns wie Staub von den Flügeln trauriger Motten. Es schwebte im Raum, und die Menschen atmeten es durch Mund und Nase ein. Ich klappte mein Buch zu und starrte lange auf meine Handflächen. Schon lange hatte ich meine Hände nicht mehr so betrachtet. Im trüben Licht wirkten sie unangenehm dunkel, schmutzig sogar, gar nicht wie meine eigenen Hände. Ihr Anblick machte mich traurig. Dies waren keine Hände, die jemanden glücklich machen oder retten konnten. Ich hätte gern meine Hand auf die Schulter des schluchzenden kleinen Mädchens neben mir gelegt und sie getröstet. Ihr gesagt, dass sie nichts falsch gemacht, sondern genau das Richtige getan hatte, als sie ihren Hut zurückeroberte. Aber natürlich berührte ich sie nicht und sprach sie auch nicht an. Das hätte
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