Blinde Weide, Schlafende Frau
atemberaubender Schönheit.
Genau. Und wenn es in dieser Welt Platz für ein einziges Gedicht gäbe, würde ich es gerne schreiben. Und die Ehre haben, der erste lorbeerbekränzte Dichter in der Welt der armen Tanten zu werden.
Nicht übel, dachte ich.
Ich würde das Sonnenlicht besingen, das sich funkelnd in den grünen Flaschen spiegelt, und das vom Morgentau glitzernde Gräsermeer zu unseren Füßen.
Aber damit blicke ich weit voraus, bis zum Jahr 11980, und zehntausend Jahre sind eine lange Wartezeit. Bis dahin muss ich noch viele Winter überstehen.
Erbrechen 1979
Er besaß die seltene Fähigkeit, über längere Zeit ein Tagebuch zu führen, ohne einen einzigen Tag auszulassen, mithin konnte er mir das genaue Datum nennen, an dem das Erbrechen erstmals aufgetreten war: Am 4. Juni 1979 (wolkenlos) hatte es angefangen und am 14. Juli 1979 (bewölkt) aufgehört. Der junge Mann war Illustrator, und ich lernte ihn kennen, als er für eine Zeitschrift arbeitete, für die ich eine Geschichte geschrieben hatte.
Er war zwei, drei Jahre jünger als ich, und wie ich sammelte er alte Schallplatten. Er schlief gern mit den Freundinnen oder Frauen seiner Freunde; das hatte er schon oft getan, sogar, wenn der Freund, den er besuchte, nur Bier holen gegangen war oder noch unter der Dusche stand. Er erzählte mir öfter davon.
»Schneller Sex ist gar nicht übel«, sagte er. »Du behältst die meisten Sachen an und machst so schnell wie möglich. Im Allgemeinen hat Sex ja die Tendenz sich hinzuziehen, oder? Da muss man’s manchmal eben anders angehen, aus einer neuen Perspektive. Macht Spaß."
Natürlich hatte er nicht nur diesen Tour-de-Force-Sex, er hatte auch Spaß an der langsamen, altmodischen Variante. Aber was ihm besonders gefiel, war, mit den Freundinnen und Frauen seiner Freunde zu schlafen.
»Es geht mir nicht darum, sie zu hintergehen oder so. Wenn ich mit ihren Frauen schlafe, fühle ich mich ihnen sogar noch mehr verbunden – es bleibt ja sozusagen in der Familie. Und schließlich geht’s ja nur um Sex. Solange es nicht herauskommt, tut es keinem weh.«
»Ist das denn noch nie passiert?«
»Natürlich nicht.« Meine Frage überraschte ihn offenbar. »So was kommt nicht raus, solange nicht jemand das latente Bedürfnis danach hat. Man muss nur aufpassen, dass man nichts sagt oder tut, was ihn auf den Trichter bringen könnte. Und es ist wichtig, von Anfang an die Regeln klarzustellen, nämlich, dass es nur um ein freundschaftliches Spielchen geht und dass ich nicht vorhabe, mich tiefer einzulassen und jemanden zu verletzen. Natürlich drücke ich mich nicht ganz so direkt aus.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass alles so reibungslos funktionierte, wie er behauptete; andererseits wirkte er auch nicht wie jemand, der sich nur wichtig machte. Vielleicht war es also tatsächlich so, wie er sagte.
»Und im Grunde wollen es die meisten Frauen auch. Ihre Männer oder Liebhaber – also meine Freunde – sind mir in der Regel in irgendeiner Hinsicht überlegen. Sie sehen besser aus, sind intelligenter oder haben einen größeren Penis. Aber das ist Frauen gleichgültig. Es genügt ihnen, wenn man einigermaßen aufrichtig, freundlich und vertrauenswürdig ist. Sie wollen aus dem starren Rahmen ihrer Beziehung ausbrechen und sehnen sich nach jemandem, der sich um sie kümmert. Das ist das wichtigste Prinzip. Natürlich gibt es auch noch andere, eher oberflächliche Motive.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel Rache für eine Affäre des Mannes, Langeweile, die Genugtuung, noch immer von anderen Männern begehrt zu werden, und so weiter. Meistens kann ich es ihnen ansehen. Das ist keine Erfahrungssache, sondern ein angeborenes Talent, das einige haben und andere nicht.«
Er selbst hatte keine feste Freundin.
Wie gesagt, wir sammelten beide Schallplatten; hin und wieder tauschten wir auch. Beide sammelten wir Jazzplatten aus den fünfziger Jahren bis zum Anfang der sechziger. Da unsere Interessen etwas verschieden waren, ergab sich öfter ein Anlass zum Tausch. Ich konzentrierte mich auf weiße Bands von der Westküste, und er sammelte Platten aus der etwas späteren, gemäßigten Epoche von Coleman Hawkins oder Lionel Hampton. Wenn er also eine Victor-Platte vom Pete Jolly Trio hatte und ich Mainstream von Vic Dickenson, war der Tausch geritzt. Dann tranken wir zur Feier den ganzen Tag Bier und verglichen die Interpreten und die Qualität unserer Platten.
An einem solchen Tag erzählte er mir von
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