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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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eindeutig, und sie besitzt für jeden von uns eine Bedeutung.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Das haben Zeichen eben so an sich.«
    »Wenn das so ist«, sagte die junge Assistentin, um die dröge Atmosphäre aufzulockern, »stünde es Ihnen dann frei, dieses Zeichen oder diese Idee verschwinden zu lassen, wenn Sie es wollten?«
    »Nein, das geht nicht. Was einmal entstanden ist, existiert unabhängig von meinem Willen weiter. Wie eine Erinnerung. Zum Beispiel gibt es Erinnerungen, die man vergessen möchte, aber nicht vergessen kann. Genauso ist das.«
    Nicht ganz überzeugt, fragte die junge Assistentin weiter: »Hätte beispielsweise auch ich die Möglichkeit, ein Wort in so ein Zeichen zu verwandeln?«
    »Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde, aber zumindest im Prinzip bestünde die Möglichkeit«, antwortete ich.
    An dieser Stelle mischte sich der Moderator ein. »Wenn ich täglich das Wort ›Idee‹ mehrmals wiederholen würde, würde vielleicht irgendwann auf meinem Rücken die Gestalt von ›Idee‹ erscheinen, oder?«
    »Prinzipiell besteht auch diese Möglichkeit«, antwortete ich mechanisch.
    »Also verwandelt sich das Wort ›Idee‹ in ein ›Zeichen‹, nicht wahr?«
    »Genau.« Von den grellen Lichtern und der stickigen Luft im Studio bekam ich allmählich Kopfschmerzen. Verschlimmernd wirkten die schrillen Stimmen dieser Leute.
    »Wie würde ›Idee‹ dann aussehen?«, fragte der Moderator. Ein paar Zuschauer lachten.
    »Das weiß ich nicht«, sagte ich. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken; ich hatte schon mit meiner armen Tante genug zu tun, und überhaupt war das alles den Leuten hier ja sowieso egal. Sie überbrückten mit ihrem Geschwätz nur die Zeit bis zur nächsten Werbung.

    Natürlich ist die ganze Welt eine Farce. Aber wer kann ihr entrinnen? Vom grellen Scheinwerferlicht eines Fernsehstudios bis zum Dämmerlicht in einer Einsiedlerklause im tiefsten Wald entspringt alles der gleichen Wurzel. Und mit meiner armen Tante auf dem Rücken war ich natürlich der größte Narr auf dieser närrischen Welt. Das Mädchen damals hatte vielleicht Recht gehabt: Vielleicht wäre ich mit einem Schirmständer auf dem Rücken besser dran. Vielleicht hätte ich dann auch einen Freundeskreis. Ich könnte den Schirmständer jede zweite Woche in einer anderen Farbe streichen und zu allen Partys gehen.
    »Super, dein Schirmständer ist diese Woche pink«, würden sie sagen.
    »Klar«, antworte ich. »Nächste Woche ist Moosgrün dran.«
    Möglicherweise gibt es sogar Mädchen, die es reizt, mit einem Mann ins Bett zu gehen, der einen rosa Schirmständer auf dem Rücken trägt.
    Doch leider hatte ich keinen rosa Schirmständer auf dem Rücken, sondern eine arme Tante. Mit der Zeit ließ das Interesse der Welt an mir und der armen Tante auf meinem Rücken nach. Letztlich interessierte sich niemand für arme Tanten (da hatte meine Gefährtin Recht gehabt). Als die anfängliche Neugier erloschen war, herrschte eine tiefe Stille, wie auf dem Meeresgrund. So tief, als wären die arme Tante und ich eins geworden.
     
3

    »Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sagte meine Gefährtin.
    Wir saßen wieder an dem Teich vor der Gemäldegalerie. Wir hatten uns drei Monate lang nicht gesehen, und es wurde schon Herbst. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Es war das erste Mal, dass ich sie so lange nicht gesehen hatte.
    »Du sahst erschöpft aus.«
    »Ich war total erledigt«, sagte ich.
    »Du warst nicht du selbst, oder?«
    Ich nickte. Wirklich, ich war nicht ich selbst gewesen.
    Mehrmals legte sie ihr Sweatshirt auf ihren Knien zusammen und faltete es wieder auseinander. Zusammen, auseinander. Auseinander, zusammen. Als würde sie die Zeit vor- und zurückdrehen.
    »Sieht so aus, als hättest du jetzt deine eigene arme Tante«, sagte sie.
    »Sieht so aus«, sagte ich.
    »Und? Was ist das für ein Gefühl?«
    »Ich fühle mich wie eine Wassermelone, die in einen Brunnen gefallen ist.«
    Sie streichelte das weiche, ordentlich gefaltete Sweatshirt auf ihren Knien wie eine Katze und lachte.
    »Verstehst du sie jetzt besser?«
    »Ich glaube, ein bisschen«, sagte ich. »Zumindest kommt es mir so vor.«
    »Konntest du etwas darüber schreiben?«
    »Nein.« Ich schüttelte leicht den Kopf. »Nichts. Mir fehlt der Antrieb. Vielleicht werde ich nie wieder etwas schreiben können.«
    »Schwächling.«
    »Du hast selbst einmal zu mir gesagt, mein Schreiben sei zu nichts nütze. Wozu dann etwas über die arme Tante

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