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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Tante auf dem Rücken hatte.
    Es war gar kein so unangenehmes Gefühl. Sie war nicht schwer und blies mir auch keinen schlechten Atem über die Schulter; sie klebte nur auf meinem Rücken wie ein ausgeblichener Schatten. Andere nahmen sie nicht einmal wahr, wenn sie nicht ganz genau hinsahen. Nur die Katzen, die bei mir wohnen, beäugten sie in den ersten zwei, drei Tagen etwas misstrauisch, aber sobald sie merkten, dass die arme Tante keinen Anspruch auf ihr Territorium erhob, gewöhnten sie sich an sie.
    Einige meiner Freunde fühlten sich belästigt. Wenn wir uns in einer Kneipe gegenübersaßen, spähte sie manchmal über meinen Rücken und glotzte meine Freunde an.
    »Sie macht mich ganz nervös«, sagte einer dann.
    »Lass dich nicht von ihr stören«, sagte ich. »Sie tut keinem etwas.«
    »Weiß ich doch, aber sie deprimiert mich.«
    »Dann versuchst du am besten, gar nicht hinzusehen.«
    »Ja, das wäre wohl am besten.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wieso hast ausgerechnet du sie am Hals?«
    »Kein besonderer Grund«, sagte ich. »Ich habe einfach nur die ganze Zeit über alles Mögliche nachgedacht.«
    Er nickte und seufzte noch einmal. »Ich kann’s mir vorstellen. Du warst schon immer so ein Typ.«
    »Hm.«
    Ohne große Begeisterung tranken wir in der nächsten Stunde ein paar Whiskeys.
    »Sag mal«, sagte ich. »Wieso findest du sie eigentlich so deprimierend?«
    »Ich hab das Gefühl, meine Mutter beobachtet mich.«
    »Wieso denn?«
    »Das fragst du noch?«, sagte er gequält. »Wahrscheinlich ist es sogar meine Mutter, die du da mit dir herumschleppst.«

    Den Eindrücken mehrerer Leute zufolge (denn ich selbst konnte sie ja nicht sehen) hatte die arme Tante, die da auf meinem Rücken klebte, keine bestimmte feste Form. Offenbar war sie etwas Ätherisches, das seine Gestalt je nach dem Innenleben der einzelnen Betrachter veränderte.
    Für einen meiner Freunde war es seine Hündin Akita, die im vergangenen Herbst an Speiseröhrenkrebs gestorben war.
    »Sie war fünfzehn, pfiff also schon auf dem letzten Loch. Aber an Speiseröhrenkrebs zu sterben – das arme Vieh.«
    »An Speiseröhrenkrebs?«
    »Ja. Das ist sehr qualvoll, ich möcht’s wahrhaftig nicht haben. Sie hat pausenlos gewinselt, obwohl sie schon fast keine Stimme mehr hatte. Ich wollte sie einschläfern lassen, aber meine Mutter hat’s nicht zugelassen.«
    »Warum denn nicht?«
    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte sie sonst Schuldgefühle gehabt.« Meinen Freund schien der Grund nicht zu interessieren. »Jedenfalls haben wir sie zwei Monate lang künstlich ernährt. Wir hatten sie auf den Speicher gebracht. Mann, was für ein Gestank!«
    Eine Weile sagte er nichts.
    »Sie war eigentlich kein sehr beeindruckender Hund –fürchtete sich vor ihrem eigenen Schatten, kläffte jeden an, den sie sah. Ein völlig unbrauchbares Tier. Laut und immer irgendwie räudig.«
    Ich nickte.
    »Sie wäre besser als Zikade auf die Welt gekommen, nicht als Hund. Sie hätte nach Herzenslust zirpen können, und keinen hätte es gestört. Speiseröhrenkrebs hätte sie dann auch nicht gekriegt.«
    Aber sie war eben doch ein Hund, und da saß sie nun auf meinem Rücken, einen Plastikschlauch im Maul.

    Für einen mit mir befreundeten Wohnungsmakler war sie eine Lehrerin, die er vor Urzeiten einmal in der Grundschule gehabt hatte.
    »Das war Showa 25, also 1950, in dem Jahr, als der Koreakrieg anfing«, sagte er, während er sich mit einem dicken Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischte. »Wir hatten sie zwei Jahre hintereinander. Man könnte richtig nostalgisch werden. Nicht dass ich Sehnsucht nach ihr gehabt hätte, ich hatte sie sogar fast vergessen.«
    Aus der Förmlichkeit, mit der er mir gekühlten Gerstentee anbot, schloss ich, dass er mich für so etwas wie einen Verwandten seiner alten Lehrerin hielt.
    »Wenn ich es mir recht überlege, konnte sie einem leid tun. Kaum hatte sie geheiratet, wurde ihr Mann schon eingezogen. Er flog mit einem Versorgungsschiff in die Luft, bumm. Das muss 1943 gewesen sein. Sie blieb dann weiter Lehrerin. Bei den Luftangriffen im folgenden Jahr erlitt sie auf der linken Seite schwere Verbrennungen, von hier bis hier.« Er fuhr mit dem Finger von seiner linken Wange bis hinunter auf den Arm. Dann trank er seinen Gerstentee in einem Zug aus und wischte sich wieder mit dem Handtuch den Schweiß ab. »Davor soll sie sehr hübsch gewesen sein, die Arme … Es heißt, danach habe sich ihre Persönlichkeit verändert. Sie

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