Blinde Weide, Schlafende Frau
sie nur noch mehr verwirrt und ihr vielleicht sogar Angst gemacht. Außerdem waren meine Hände so schwarz und schmutzig.
Als ich ausstieg, blies schon ein winterlicher Wind. Die Pulloversaison war zu Ende, und es wurde Zeit für dicke Mäntel. Einen Moment überlegte ich, ob ich mir einen neuen Wintermantel kaufen sollte. Als ich dann die Treppe hinunter und durch die Sperre ging, fiel es mir plötzlich auf: Die arme Tante war von meinem Rücken verschwunden.
Ebenso unbemerkt, wie sie gekommen war, war sie auch wieder von meinem Rücken verschwunden. Sie war dorthin zurückgekehrt, wo immer sie vorher existiert hatte, und ich war wieder mein altes Selbst.
Aber was war eigentlich mein altes Selbst? Ich hatte eher das Gefühl, dass ich jetzt ein anderes Selbst war, das dem ursprünglichen sehr ähnelte. Was sollte ich jetzt tun? Ich war ganz allein, wie ein Schild ohne Aufschrift, das mitten in der Wüste steht. Ich hatte jede Orientierung verloren. Ich durchsuchte meine Taschen, warf mein ganzes Kleingeld in ein Münztelefon und wählte ihre Nummer. Es klingelte acht Mal, beim neunten Mal hob sie ab.
»Ich hab geschlafen«, sagte sie mit abwesender Stimme.
»Um sechs Uhr abends?«, fragte ich erstaunt.
»Ich habe gestern die ganze Nacht durchgearbeitet. Bin erst vor zwei Stunden fertig geworden.«
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte ich. »Es klingt vielleicht sonderbar, aber ehrlich gesagt wollte ich mich nur vergewissern, dass du am Leben bist.«
Ich spürte, dass sie am anderen Ende der Leitung lächelte.
»Danke für die Nachfrage«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Ich bin am Leben und arbeite hart, um am Leben zu bleiben, deshalb bin ich so todmüde. Reicht das? Bist du nun beruhigt?«
»Und wie.«
»Übrigens«, sagte sie, als wolle sie mir etwas anvertrauen, »das Leben ist ganz schön anstrengend.«
»Finde ich auch«, sagte ich. Allerdings. Das Leben war ganz schön anstrengend. »Hättest du jetzt Lust, mit mir zusammen zu essen?«, fragte ich.
»Tut mir leid, ich bin nicht hungrig. Im Augenblick möchte ich nur schlafen.«
»Ich bin eigentlich auch nicht hungrig«, sagte ich. »Ich wollte nur mit dir reden. Weil alles Mögliche passiert ist.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ich wusste, dass sie sich auf die Lippe biss und den kleinen Finger an die Augenbraue legte.
»Später«, sagte sie gedehnt. »Lass mich jetzt schlafen. Nur ein Weilchen. Danach ist alles gut. Wenn ich aufwache, ruf ich dich an, ja?«
»In Ordnung«, sagte ich. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Doch dann zögerte sie einen Moment. »Oder war es etwas Dringendes?«
»Nein, nein«, sagte ich. »Nicht besonders dringend. Das geht auch später.« Ja, wir hatten jede Menge Zeit. Zehntausend Jahre, zwanzigtausend Jahre. Ich konnte ewig warten.
Sie sagte noch einmal »gute Nacht« und legte auf. Nachdem ich den gelben Hörer in meiner Hand eine Weile betrachtet hatte, legte auch ich sacht auf. Plötzlich hatte ich einen fürchterlichen Hunger. Wahnsinnigen Hunger. Ich musste etwas essen, irgendetwas in den Mund bekommen, egal, was es war. Würde mir jemand jetzt etwas hinwerfen, würde ich es vom Boden essen und vielleicht sogar noch seine Finger ablecken.
Genau, ich würde euch die Finger ablecken. Danach würde ich schlafen wie eine verwitterte Eisenbahnschwelle. Nicht mal der härteste Tritt würde mich wecken. Ich würde zehntausend Jahre lang tief schlafen.
Ich lehnte mich an das Telefon, leerte meinen Kopf und schloss die Augen. Die Schritte Zehntausender Menschen gingen wie eine Welle über mich hinweg. Die Menschen liefen weiter und weiter, trapptrapptrapptrapp. Wohin wohl die arme Tante zurückgekehrt war? Und ich, wohin war ich zurückgekehrt?
Falls es in zehntausend Jahren eine Gesellschaft geben sollte, die nur aus armen Tanten besteht – ob sie mir wohl die Tore ihrer Stadt öffnen würden? Sie hätten dort eine Regierung und ein Rathaus mit von armen Tanten gewählten armen Tanten, es würden von armen Tanten gesteuerte Bahnen für arme Tanten fahren, und es gäbe von armen Tanten für arme Tanten geschriebene Romane.
Oder vielleicht brauchten sie so etwas ja gar nicht, eine Regierung, Bahnen und Romane.
Vielleicht wollten sie sich viel lieber riesige Essigflaschen anfertigen und in ihnen ein ruhiges, heiteres Leben führen. Aus der Luft sähe man dann auf der Erde Zehntausende, ja Hunderttausende solcher Flaschen. Flaschen, soweit das Auge reicht – bestimmt ein Anblick von
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