Blinde Weide, Schlafende Frau
seinem Erbrechen. Wir saßen in seiner Wohnung, tranken Whiskey und redeten zunächst über Musik, dann übers Trinken und unsere Erfahrungen damit.
»Ich habe mich einmal vierzig Tage lang täglich übergeben. Jeden Tag. Nicht ein Tag verging ohne. Aber es kam nicht vom Saufen. Ich war auch nicht krank. Ich übergab mich völlig grundlos, und das vierzig Tage lang. Das war vielleicht was.«
Das erste Mal erbrach er sich am 4. Juni. Darüber konnte er sich nicht beschweren, denn er hatte am Abend vorher eine Menge Whiskey und Bier in sich hineingekippt. Und dann wie immer mit der Frau eines Freundes geschlafen. Das war in der Nacht vom dritten auf den vierten Juni 1979.
Dass er sich dann am vierten um acht Uhr morgens in die Toilettenschüssel übergab, widersprach also dem gesunden Menschenverstand keineswegs. Es war zwar das erste Mal seit seinem Studium, dass er einen derartigen Kater hatte, aber durchaus plausibel. Er drückte den Hebel und spülte das Erbrochene hinunter. Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch und fing an zu arbeiten. Er fühlte sich nicht schlecht, im Gegenteil, er verspürte an diesem Tag sogar eine besondere Energie. Die Arbeit ging ihm gut von der Hand, und um die Mittagszeit hatte er sogar richtig Appetit.
Er machte sich ein Sandwich mit Schinken und Gurke und trank eine Dose Bier dazu. Nach einer halben Stunde verspürte er einen Brechreiz, und das ganze Sandwich landete in der Toilette. Schleimige Brot- und Schinkenstücke schwammen im Wasser. Dennoch fühlte er sich nicht schlecht; er hatte sich nur erbrochen. Es hatte sich angefühlt, als stecke ihm etwas im Hals, und er hatte sich nur vorsorglich über die Toilette gebeugt, da kam schon sein ganzer Mageninhalt heraus. Wie bei einem Zauberer, der Tauben, Hasen oder die Flaggen irgendwelcher Länder aus seinem Hut zieht.
»Ich hatte mich schon öfter erbrochen, als Student habe ich gesoffen wie ein Loch. In Bussen wird mir auch manchmal schlecht. Aber dies war etwas ganz anderes. Nicht mal mein Magen krampfte sich zusammen. Es war, als würde er das Essen einfach so nach oben drücken. Es gab überhaupt keinen Widerstand. Auch dieser unangenehme Geruch war nicht dabei. Langsam wurde es mir unheimlich. Immerhin war es jetzt schon zweimal passiert. Beunruhigt beschloss ich, mal eine Weile keinen Alkohol zu trinken.«
Pünktlich am nächsten Morgen übergab er sich zum dritten Mal. Sein Magen gab die Reste des Aals, den er am Abend zuvor gegessen hatte, und so gut wie den ganzen englischen Muffin mit Marmelade vom Frühstück wieder von sich.
Als er sich anschließend im Bad die Zähne putzte, klingelte das Telefon. Er nahm ab, ein Mann redete ihn mit seinem Namen an und legte auf. Mehr nicht.
»Vielleicht der Freund oder Mann von einer der Frauen, mit denen du geschlafen hast?«, fragte ich.
»Kann nicht sein«, erwiderte er. »Ich kenne doch die Stimmen von allen, und diese hatte ich noch nie gehört. Eine ziemlich widerliche Stimme. Danach bekam ich jeden Tag solche Anrufe, vom fünften Juni bis zum vierzehnten Juli. Also genau in der Zeit, in der ich mich ständig übergab.«
»Meinst du denn, es gab einen Zusammenhang zwischen den Anrufen und deinem Erbrechen?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Das ist mir bis heute ein Rätsel. Jedenfalls verliefen alle Anrufe nach dem gleichen Muster. Das Telefon klingelte, er sagte meinen Namen und legte auf. Jeden Tag einmal. Zu unterschiedlichen Zeiten. Morgens, abends, mitten in der Nacht. Ich hätte einfach nicht ans Telefon gehen sollen, aber aus beruflichen Gründen ging das nicht, außerdem rufen mich manchmal auch Frauen an.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Jedenfalls musste ich mich weiter täglich übergeben. Ich glaube, ich gab fast alles, was ich aß, wieder von mir. Danach bekam ich fürchterlichen Hunger, aß etwas und kotzte es wieder aus. Der reinste Teufelskreis. Ich schaffte es, von drei Mahlzeiten vielleicht eine bei mir zu behalten, was mich wahrscheinlich gerade so am Leben hielt. Hätte ich alle drei Mahlzeiten erbrochen, hätte ich wohl an den Tropf gemusst.«
»Bist du denn nicht zum Arzt gegangen?«
»Natürlich. Ich war in einer Klinik hier in der Nähe. Sie ist sogar ziemlich groß. Sie haben mich geröntgt und einen Urintest gemacht. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ich Krebs hatte, und sie untersuchten mich sehr gründlich, aber sie fanden absolut nichts. Ich war die Gesundheit in Person. Am Ende verschrieben sie mir etwas gegen chronische
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