Blinde Weide, Schlafende Frau
letzten Tropfen meiner körperlichen und geistigen Kraft.«
»Mann«, sagte ich.
»Was hättest denn du an meiner Stelle getan, Murakami?«
»Tja, was wohl? Keine Ahnung«, sagte ich. Ich hatte wirklich keine.
»Ich musste mich immer weiter übergeben, und die Anrufe hörten auch nicht auf. Ich nahm enorm ab. Warte, ja genau – am vierten Juni wog ich vierundsechzig Kilo, am einundzwanzigsten noch einundsechzig und am zehnten Juli waren es nur noch achtundfünfzig. Achtundfünfzig Kilo! Für meine Größe ist das unerhört. Meine Sachen passten mir nicht mehr. Beim Gehen musste ich mir die Hose festhalten.«
»Eine Frage: Warum hast du keinen Anrufbeantworter oder so was eingeschaltet?«
»Weil ich nicht davonlaufen wollte, natürlich. Damit hätte ich mich geschlagen gegeben. Jetzt ging es ums Ganze. Entweder er würde aufgeben oder ich würde den Löffel abgeben. Meine Einstellung zu dem ständigen Erbrechen war so ähnlich. Ich beschloss, es als ideale Diät zu betrachten. Meine Körperkraft hatte nicht auffällig nachgelassen, ich konnte einigermaßen normal arbeiten und alles erledigen, was in meinem Alltag anfiel. Daher trank ich auch wieder Alkohol. Morgens trank ich schon mal ein Bier, und nach Sonnenuntergang tüchtig Whiskey. Ich übergab mich ja so oder so, ob ich nun trank oder nicht. Wenn ich trank, fiel mir alles leichter.
Also hob ich ein bisschen Geld von meinem Sparkonto ab, ging zum Schneider und ließ mir einen Anzug und zwei Paar Hosen machen, die meiner neuen Figur entsprachen. Als ich mich im Schneiderladen im Spiegel betrachtete, fand ich, dass es mir gar nicht übel stand, so schlank zu sein. Wenn ich’s mir recht überlegte, war es auch gar keine so große Sache, sich zu übergeben. Es tat viel weniger weh als Hämorrhoiden oder Karies, und würdiger als Durchfall war es allemal. Nachdem ich das Ernährungsproblem gelöst hatte und der Verdacht auf Krebs nun nicht mehr bestand, fand ich das Erbrechen eher harmlos. In Amerika verkaufen sie ja sogar Brechmittel zum Abnehmen.«
»Und das Erbrechen und die Anrufe dauerten dann noch bis zum vierzehnten Juli an?«, fragte ich.
»Einen Moment, bitte, ich kann es dir ganz genau sagen – am vierzehnten Juli um halb zehn Uhr vormittags habe ich zum letzten Mal erbrochen – Toast, Tomatensalat und Milch. Den letzten Anruf erhielt ich um 22 Uhr 25 am Abend, als ich mir gerade Concert by the Sea von Errol Garner anhörte und Seagram VO trank. Was sagst du jetzt? Praktisch, so ein Tagebuch, was?«
»Doch, wirklich«, stimmte ich ihm zu. »Und danach hörte beides schlagartig auf?«
»Schlagartig. Es war wie in Die Vögel von Hitchcock. Man öffnet am nächsten Morgen die Tür, und alles ist wieder normal. Das Erbrechen, die Anrufe, nichts davon trat je wieder auf. Bald wog ich wieder dreiundsechzig Kilo, und der neue Anzug und die neuen Hosen hängen im Schrank. Sie sind jetzt für mich so etwas wie Andenken.«
»Und der Mann am Telefon hat bis zum Schluss immer nur dasselbe gesagt?«
Er schüttelte den Kopf und warf mir einen etwas abwesenden Blick zu. »Nein«, sagte er. »Bei seinem allerletzten Anruf lief es anders. Zuerst sagte er wie immer meinen Namen, aber dann fragte er: ›Wissen Sie, wer ich bin?‹ Anschließend schwieg er. Ich schwieg ebenfalls. Zehn oder fünfzehn Sekunden vergingen, ohne dass einer von uns etwas sagte. Dann legte er auf, und nur noch das Amtszeichen ertönte.«
»Mehr hat er nicht gesagt? Nur ›Wissen Sie, wer ich bin?‹«
»Genau, wortwörtlich. Er sagte langsam und deutlich: ›Wissen Sie, wer ich bin?‹ Aber an seine Stimme kann ich mich nicht erinnern. Zumindest hat keiner von den Leuten, mit denen ich in den letzten fünf, sechs Jahren verkehrt habe, eine solche Stimme. Es könnte natürlich jemand aus meiner Kindheit gewesen sein oder jemand, mit dem ich noch kaum gesprochen habe. Aber soweit ich weiß, habe ich niemandem etwas angetan, wofür er mich so hassen könnte. Ein eifersüchtiger Kollege kann es eigentlich auch nicht gewesen sein, dazu bin ich nicht gefragt genug. Zugegeben, was meine Beziehungen zu Frauen angeht, war mein Gewissen, wie du weißt, nicht ganz rein. Mit siebenundzwanzig ist man schließlich kein Unschuldslämmchen mehr. Aber ich kenne die Stimmen der Betreffenden, ich hätte sie sofort erkannt.«
»Aber du musst doch zugeben, dass es nicht gerade normal ist, sich darauf zu spezialisieren, mit den Frauen von Freunden zu schlafen.«
»Und?«, fragte er. »Willst du
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