Blinde Weide, Schlafende Frau
und bat sie, zu überprüfen, ob mein Zimmer gerade angerufen worden sei. Fehlanzeige, denn die Telefonzentrale zeichnete zwar die hinausgehenden Anrufe auf, aber nicht die eingehenden. Ich hatte nichts in der Hand.
Die Nacht im Hotel war der Wendepunkt. Nun dachte ich ernsthaft nach. Mein Erbrechen, die Anrufe – zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass es zwischen beidem einen Zusammenhang geben könnte, teilweise zumindest. Und es dämmerte mir, dass ich beides nicht mehr so leicht nehmen durfte wie bisher.
Nach zwei Nächten im Hotel kehrte ich nach Hause zurück. Das Erbrechen und die Anrufe dauerten unverändert an. Versuchsweise übernachtete ich ein paar Mal bei Freunden, aber auch dort bekam ich die Anrufe, jedoch nur, wenn die Freunde nicht da waren und ich allein war. Allmählich wurde es mir unheimlich. Es war, als stünde etwas Unsichtbares hinter mir und beobachtete jede meiner Bewegungen. Es wusste anscheinend genau, wann es mich anrufen oder mir den Finger in den Hals steckte musste. So was sind erste Anzeichen von Schizophrenie, verstehst du?«
»Aber es gibt wohl kaum Schizophrene, die befürchten, schizophren zu sein, oder?«, sagte ich.
»Stimmt. Genau, wie du sagst. Und es sind auch keine Fälle bekannt, die auf eine Verbindung zwischen Schizophrenie und Erbrechen hinweisen. Die Psychiater in der Uni-Klinik haben mich kaum angeschaut – sie behandeln nur Patienten mit eindeutigeren Symptomen. In jedem Wagen der Yamanote-Linie sitzen angeblich zweieinhalb bis drei Personen mit ähnlichen Symptomen wie meinen; die können sie in den Krankenhäusern unmöglich alle behandeln. Man riet mir, wegen des Erbrechens zu einem Internisten und wegen der Anrufe zur Polizei zu gehen.
Aber du weißt vielleicht, dass es zwei Delikte gibt, um die sich die Polizei nicht kümmert: Telefonbelästigung und Fahrraddiebstahl. Beide kommen einfach zu häufig vor und sind als Vergehen zu läppisch. Würde die Polizei jedem einzelnen Fall nachgehen, könnten sie ihren Laden dicht machen. Sie haben mich nicht einmal richtig angehört. Sie werden telefonisch belästigt? Was sagt der Anrufer? Nur Ihren Namen? Mehr nicht? Füllen Sie dieses Formular hier aus. Rufen Sie uns an, wenn noch etwas anderes passiert. Das war alles.
Mir wurde klar, dass ich weder von Ärzten noch von der Polizei oder sonst jemandem etwas zu erwarten hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen – das wurde mir am zwanzigsten Tag mit ›Erbrechen plus Anrufe‹ klar. Ich habe mich immer für einen körperlich und geistig robusten Menschen gehalten, aber mittlerweile war ich ziemlich am Ende.«
»Aber mit dieser Freundin deines Freundes lief doch alles gut, oder?«
»Ja, schon. Er war gerade für zwei Wochen geschäftlich auf den Philippinen, und wir hatten viel Spaß.«
»Bekamst du Anrufe, wenn du mit ihr zusammen warst?«
»Nein. Ich könnte zur Sicherheit in meinem Tagebuch nachschauen, aber ich glaube nicht. Die Anrufe kamen immer, wenn ich allein war. Genau wie das Erbrechen. Allmählich fragte ich mich: Warum bin ich eigentlich so viel allein? Tatsächlich bin ich wahrscheinlich etwas über dreiundzwanzig Stunden am Tag allein. Ich lebe allein, ich arbeite zu Hause, die meisten beruflichen Gespräche führe ich am Telefon, meine Freundinnen sind die Freundinnen anderer Leute, neun von zehn Malen esse ich außer Haus, der einzige Sport, den ich treibe, ist Schwimmen – allein, versteht sich –, und mein Hobby besteht darin, allein alte Platten zu hören. Bei meiner Arbeit muss ich mich konzentrieren, und das geht nur, wenn ich allein bin. Ich habe zwar Freunde, aber in unserem Alter haben alle unheimlich viel zu tun, sodass ihnen kaum Zeit bleibt, sich mit anderen zu treffen. Du kennst ja dieses Leben sicher auch.«
»Ja, klar.«
Er goss Whiskey über das Eis in seinem Glas, rührte mit dem Finger um und nahm einen Schluck.
»Also habe ich mich hingesetzt und mal richtig nachgedacht. Was sollte ich tun? Weiter bis in alle Ewigkeit unter Erbrechen und Telefonterror leiden?«
»Du hättest dir eine feste Freundin suchen können. Eine eigene, meine ich.«
»Daran habe ich natürlich auch gedacht. Ich war damals siebenundzwanzig, gerade im richtigen Alter für etwas Festes. Aber ich bin nicht der Typ für so was. Ich durfte nicht so leicht aufgeben. Wegen ein paar lächerlichen Anrufen und Kotzanfällen würde ich nicht mein ganzes Leben umkrempeln. Ich beschloss zu kämpfen – bis zum
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