Blinde Weide, Schlafende Frau
etwas anschaute. Obwohl ich laut geschrieen hatte, schien er mich nicht gehört zu haben. Vielleicht war er auch so vertieft in seinen Fund, dass meine Stimme nicht zu ihm durchdrang. Das kam bei ihm öfter vor; etwas fesselte ihn derart, dass er alles vergaß, was um ihn herum geschah. Vielleicht war meine Stimme auch nicht so laut gewesen, wie ich dachte. Ich weiß noch, dass sie mir selbst fremd vorgekommen war, wie die Stimme eines anderen.
Dann hörte ich ein Donnern. Es war so laut, dass es beinahe die Erde erbeben ließ. Oder, nein – vor dem Donnern hörte ich noch ein anderes Geräusch, ein eigenartiges Gurgeln, als würden große Mengen Wasser aus einem Loch hervorsprudeln. Kurz darauf verschwand es, und ich hörte das seltsame Donnern, das sich immer mehr in ein anhaltendes Brüllen verwandelte. Aber K. schaute noch immer nicht auf. Er hockte weiter im Sand und starrte konzentriert auf etwas zu seinen Füßen. Wahrscheinlich nahm er das Donnern nicht einmal wahr. Warum dieses seismische Getöse nicht an seine Ohren drang, begreife ich nicht. Oder vielleicht konnte nur ich es hören. Es klingt sicher seltsam, aber vielleicht war dieses eigentümliche Geräusch nur für meine Ohren wahrnehmbar, denn nicht einmal der Hund merkte etwas, und Hunde haben ja, wie wir wissen, ein besonders feines Gehör.
Ich wollte zu K. hinüberrennen und ihn mit mir davonzerren. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ich wusste, dass die Welle kam, er wusste es nicht. Doch ehe ich mich versah, schlugen meine Füße eine andere Richtung ein. Allein rannte ich auf die Betonmauer zu. Sicher war es nackte Angst, die mich dazu brachte. Sie raubte mir die Stimme und trieb meine Beine voran. Ich stolperte durch den weichen Sand und erreichte den Damm. Jetzt rief ich K. zu:
»Achtung! Eine Welle!« Dieses Mal war meine Stimme laut genug. Das Donnern hatte aufgehört. Endlich hörte mich K. und sah auf. Aber es war zu spät. Hoch aufgerichtet wie eine Riesenschlange, die im Begriff ist zuzustoßen, raste die Welle auf den Strand zu. Eine solche Welle hatte ich noch nie gesehen. Sie war so hoch wie ein zweistöckiges Haus. Fast lautlos (zumindest erinnere ich mich nicht, etwas gehört zu haben) ragte sie empor und verdeckte den Himmel hinter K. Einen Moment lang starrte er mich fassungslos an. Dann wandte er sich um, als spüre er plötzlich etwas, sah die Welle, wollte davonrennen, aber das konnte er nicht mehr. Im nächsten Augenblick war die Welle schon wie eine Lokomotive in voller Fahrt auf ihn geprallt und hatte ihn verschlungen.
Die Welle brach und zerbarst in eine Unzahl von kleineren Wellen und Tropfen, die durch die Luft spritzten und über den Damm brandeten. Ich entkam ihrer Gewalt, indem ich mich dahinter duckte, und die aufschäumende Gischt durchnässte nur meine Kleider. Hastig kletterte ich auf die Mauer und suchte mit meinen Blicken den Strand ab. Die Welle rollte brüllend rückwärts, weit ins Meer zurück, als würde jemand am Ende der Welt einen riesigen Teppich wegziehen. Von K. und seinem Hund war nichts zu sehen. Die Welle hatte sich so weit zurückgezogen, dass der ganze Meeresgrund frei zu liegen schien. Allein und wie erstarrt stand ich auf der Mauer.
Stille kehrte ein. Eine verzweifelte Stille, als sei jeder Laut auf der Erde gewaltsam getilgt worden. Die Welle hatte K. verschluckt und mit sich in die Ferne genommen. Was sollte ich jetzt tun? Den Strand absuchen? Vielleicht lag K. hier irgendwo im Sand begraben. Dann überlegte ich es mir anders und blieb auf der Mauer, denn aus Erfahrung wusste ich, dass große Wellen dazu neigen, sich zu wiederholen.
Ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit verging. Nicht sehr viel, glaube ich, höchstens zehn oder zwanzig Sekunden. Wie ich es geahnt hatte, rollte nach der unheimlichen Stille abermals eine Welle an. Wie beim ersten Mal ließ ihr Gebrüll die Erde erzittern, und als es verstummte, türmte sich wieder eine Riesenwelle auf. Wie zuvor verdeckte sie den Himmel und ragte wie eine todbringende Felswand vor mir auf. Doch diesmal floh ich nicht, sondern blieb wie angewurzelt auf der Mauer stehen und sah ihrem Angriff entgegen. Wahrscheinlich sah ich keinen Sinn mehr darin zu fliehen, nachdem K. mir entrissen worden war; vielleicht war ich auch nur vor Angst und Entsetzen erstarrt. Ich weiß es nicht mehr.
Die zweite Welle war ebenso riesig wie die erste, wenn nicht noch größer. Hoch über mir brach sie, als würde eine Backsteinmauer langsam einstürzen.
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