Blinde Weide, Schlafende Frau
Eltern mir keine Vorwürfe machten und überhaupt alle es so sorgfältig vermieden, den Vorfall vor mir zu erwähnen. Lange Zeit konnte ich mich von dem seelischen Schock nicht erholen. Ich ging nicht zur Schule, aß nicht, lag nur im Bett und starrte an die Decke.
Ich konnte K.s grinsendes Gesicht in der Welle nicht vergessen; jeden einzelnen Finger seiner nach mir ausgestreckten Hand sah ich vor mir. Und wenn ich endlich einschlief, träumte ich von ihm – nur dass K. dann aus seiner Kapsel sprang, mich am Handgelenk packte und mit sich in die Welle zog.
Ich hatte auch noch einen anderen Traum: Ich schwimme an einem schönen Sommernachmittag aufs Meer hinaus. Ziemlich weit hinaus. Die Sonne brennt mir auf den Rücken, und das Wasser fühlt sich angenehm an. Plötzlich packt mich jemand am rechten Bein, umklammert mit eiskaltem Griff meinen Knöchel, so fest, dass ich ihn nicht abschütteln kann. Ich werde unter Wasser gezogen und sehe K.s Gesicht. Er starrt mich mit diesem breiten Grinsen an. Ich will schreien, aber mir versagt die Stimme. Wasser dringt in meine Lunge.
Dann wachte ich keuchend, schreiend und schweißgebadet auf.
Am Ende jenes Jahres flehte ich meine Eltern an, mich so bald wie möglich in eine andere Stadt ziehen zu lassen. Ich konnte einfach nicht mehr dort leben, wo die Welle K. mitgerissen hatte. Jede Nacht suchten mich Albträume heim. Ich wollte nur noch weg. Andernfalls würde ich wahnsinnig werden. Mein Vater sah das ein und sorgte für eine Luftveränderung. Im Januar zog ich zu seinen Eltern ins Gebirge, nach Koromo in der Präfektur Nagano, wo ich bis zum Ende der Oberschule blieb. Nicht einmal in den Ferien fuhr ich nach Hause. Stattdessen besuchten mich meine Eltern in Komoro.
Auch heute noch lebe ich in Nagano. Nachdem ich eine Fachhochschule für Ingenieurwesen absolviert hatte, fing ich bei einem Hersteller für Präzisionswerkzeuge an, bei dem ich noch immer beschäftigt bin. Ich führe ein ganz normales Leben. Wie Sie sehen, bin ich nicht anders als andere. Ich bin nur nicht sehr gesellig, aber ich habe ein paar Freunde, mit denen ich hin und wieder eine Bergwanderung unternehme.
Kaum hatte ich den Ort am Meer verlassen, ließen meine Albträume nach, aber sie blieben Teil meines Lebens und suchten mich von Zeit zu Zeit, zuverlässig wie der Stromableser, weiter heim. Sie traten immer dann auf, wenn ich im Begriff stand zu vergessen. Es war stets der gleiche Traum, bis in die winzigste Einzelheit. Ich wachte schreiend und schweißgebadet auf.
Wahrscheinlich habe ich auch deshalb nie geheiratet. Ich wollte keine neben mir liegende Ehefrau mitten in der Nacht mit meinem Geschrei erschrecken. Im Laufe der Jahre habe ich mich mehrmals verliebt, aber nie eine Nacht mit einer Frau verbracht. Ich konnte das Entsetzen, das mir tief in den Knochen steckte, nie mit einer anderen Person teilen.
Mehr als vierzig Jahre blieb ich meiner Heimatstadt fern. Ich mied nicht nur diesen Küstenstreifen, sondern fuhr überhaupt nie ans Meer. Ich war immer gern geschwommen, aber seit jenem Tag ging ich nicht einmal mehr ins Schwimmbad. Auch in die Nähe von Seen und Flüssen wagte ich mich nicht. Ich stieg auf kein Schiff und in kein Flugzeug. Doch all das half mir nicht, meine Angst vor dem Ertrinken abzuschütteln. Diese düstere Ahnung hielt meinen Geist umklammert, wie K.s eisige Hand in meinen Träumen, und ließ mich nicht los.
Im vergangenen Frühjahr wagte ich mich dann endlich an den Strand, an dem die Welle K. verschlungen hatte.
Mein Vater war im Jahr zuvor an Krebs gestorben, und mein Bruder hatte unser Haus verkauft. Beim Ausräumen hatte er in der Abstellkammer einen Karton mit Sachen aus meiner Kindheit entdeckt und mir nach Nagano geschickt. Das meiste davon war unbrauchbar, aber es war ein Stapel Bilder dabei, die K. gemalt und mir geschenkt hatte. Wahrscheinlich hatten meine Eltern sie als Andenken für mich aufgehoben. Bei ihrem Anblick erstickte ich fast vor Angst. Mir war, als würde sich K.s Geist aus diesen Bildern auf mich stürzen. Hastig schlug ich sie wieder ein und packte sie zurück in den Karton, um sie fortzuwerfen; aber das brachte ich nicht über mich. Nachdem ich ein paar Tage gezögert hatte, zwang ich mich, K.s Aquarelle wieder hervorzunehmen und eingehend zu betrachten.
Die meisten waren Landschaftsbilder. Ich sah den vertrauten Strand, das Kieferwäldchen dahinter und unseren Ort. Seltsamerweise waren die Farben nicht verblasst, und die Bilder hatten
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