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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Eigentlich war sie viel zu groß für eine reale Welle. Sie musste etwas anderes sein, das in Gestalt einer Welle aus einer anderen Welt kam. Tapfer erwartete ich den Moment, in dem ihre Schwärze mich verschlingen würde. Ich schloss nicht einmal die Augen. Ich weiß noch, wie mir mein Herzschlag in den Ohren dröhnte. Doch kurz vor mir verlor die Welle jäh ihre Kraft und blieb in der Luft stehen. Einen Augenblick, bevor sie brach, stand sie still. Und auf ihrem Kamm, auf ihrer grausamen, transparenten Zunge, erkannte ich ganz deutlich K.
    Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie das, was jetzt kommt, unglaubwürdig finden; ich kann es ja bis heute selbst kaum glauben, und eine Erklärung dafür habe ich natürlich auch nicht. Aber es war weder Einbildung noch eine Halluzination. So und nicht anders hat es sich wirklich und wahrhaftig damals zugetragen: Im Kamm der Welle sah ich, wie in eine durchsichtige Kapsel eingeschlossen, K.s Körper. Doch damit nicht genug, K. lächelte mich sogar an. Genau vor mir, so nah, dass ich ihn hätte berühren können, lag auf der Seite mein Freund K., der wenige Augenblicke zuvor von einer Riesenwelle verschlungen worden war. Und lächelte mich an. Es war nicht nur ein Lächeln, sondern ein breites, offenes Grinsen, das buchstäblich von einem Ohr zum anderen reichte. Sein eisiger Blick war auf mich geheftet, während er die rechte Hand nach mir ausstreckte, als wolle er nach mir greifen und mich in seine Welt hinüberziehen. Fast hätte die Hand mich erreicht, und K. grinste mich noch breiter an.

    Danach verlor ich anscheinend das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, lag ich in einem Bett in der Klinik meines Vaters. Kaum schlug ich die Augen auf, rief die Schwester meinen Vater, der sofort herbeieilte. Er fühlte mir den Puls, untersuchte meine Pupillen und legte die Hand auf meine glühende Stirn. Ich konnte mich weder bewegen noch klar denken. Offenbar hatte ich schon länger hohes Fieber. Ich hätte drei Tage geschlafen, sagte mein Vater. Ein Nachbar, der von ferne alles beobachtet hatte, hatte mich aufgehoben und nach Hause getragen. K. war wohl von der Welle mitgerissen worden, und bisher gab es keine Spur von ihm. Ich wollte meinem Vater etwas erzählen, musste es ihm erzählen, aber meine Zunge war geschwollen und wie gelähmt, sodass ich kein Wort herausbrachte. Es fühlte sich an, als hätte ein fremdes Lebewesen in meinem Mund Wohnung bezogen. Mein Vater fragte mich nach meinem Namen. Ich versuchte mich zu erinnern, aber bevor er mir einfiel, verlor ich wieder das Bewusstsein und versank im Dunkel.
    Schließlich musste ich eine Woche das Bett hüten und bekam nur flüssige Nahrung. Ich übergab mich immer wieder und hatte Albträume. Mein Vater befürchtete damals ernstlich, mein Verstand habe durch das hohe Fieber und den heftigen Schock dauerhaften Schaden genommen. Ein Wunder wäre es nicht gewesen. Nach einigen Wochen jedoch hatte ich mich zumindest körperlich erholt. Dennoch sollte nichts je wieder so sein wie vorher.
    K.s Leiche wurde nie gefunden. Auch die seines Hundes nicht. Gewöhnlich wurden die Menschen, die an unserem Küstenstreifen ertranken, einige Tage später in einer kleinen Bucht im Osten angespült, aber K.s Leichnam blieb verschwunden. Wahrscheinlich hatten ihn die gewaltigen Taifunwellen so weit ins Meer hinausgezogen, dass er nicht mehr angespült wurde. Sicher lag er irgendwo auf dem Meeresgrund und wurde von den Fischen gefressen. Die Fischer aus unserem Ort setzten die Suche lange fort, aber irgendwann gaben sie auf. Da es keine Leiche gab, fand auch keine Beerdigung statt. K.s Eltern liefen halb wahnsinnig vor Schmerz den Strand ab; oder sie schlossen sich im Haus ein und rezitierten Sutren.
    Doch obwohl der Tod ihres Sohnes ein so furchtbarer Schlag für sie war, warfen K.s Eltern mir niemals vor, dass ich ihn bei einem Taifun mit zum Strand genommen hatte. Sie wussten, dass ich K. geliebt hatte wie einen jüngeren Bruder. Auch meine Eltern erwähnten den Vorfall in meiner Gegenwart nie. Aber ich kannte die Wahrheit: Ich hätte ihn retten können, wenn ich nur gewollt hätte. Wenn ich zu ihm gerannt wäre und ihn mit mir gezogen hätte, dorthin, wo die Welle uns nicht erreichen konnte. Es wäre knapp gewesen, aber wenn ich mir rückblickend den zeitlichen Ablauf vergegenwärtigte, kam es mir möglich vor. Dennoch hatte ich, von Angst überwältigt, ihn im Stich gelassen und nur mich selbst gerettet. Umso mehr quälte es mich, dass K.s

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