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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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über uns. Es war so ruhig, dass wir den Ruf eines Vogels in der Ferne vernahmen. Mein Vater öffnete vorsichtig eine Sturmtür und spähte durch den Spalt nach draußen. Wind und Regen hatten sich gelegt. Dichte graue Wolken zogen langsam dahin. Hier und dort zeigte sich ein Fleckchen blauer Himmel. Von den Ästen der Bäume im Garten troff Wasser.
    »Wir sind im Auge des Taifuns«, erklärte mir mein Vater. »Diese Ruhe wird etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten andauern, dann bricht der Sturm wieder los.«
    Ich fragte ihn, ob ich ins Freie dürfe. Er erlaubte es mir unter der Bedingung, dass ich nicht allzu weit fortlief. »Beim ersten Windstoß bist du wieder hier!«, ermahnte er mich.
    Draußen schaute ich mich um. Es war kaum zu glauben, dass noch vor wenigen Minuten hier ein Sturm gewütet hatte. Ich sah in den Himmel und spürte, wie das große Auge des Sturms kalt auf uns herunterschaute. Natürlich existierte ein solches Auge nicht, wir befanden uns nur im windstillen Zentrum des Wirbelsturms.
    Während die Erwachsenen das Haus auf Sturmschäden untersuchten, ging ich hinunter zum Strand. Die Straße war voller abgerissener Äste, auch dicker Kiefernäste, die selbst ein Erwachsener nicht hätte anheben können. Zerschellte Dachziegel lagen überall umher, die Windschutzscheiben vieler Autos waren geborsten, und sogar eine Hundehütte hatte es auf die Straße geweht. Als hätte sich von oben eine große Hand ausgestreckt und alles platt gemacht, was ihr in die Quere kam.
    K. sah mich und kam ebenfalls nach draußen.
    »Wo gehst du hin?«, fragte er.
    »Ich will mal am Meer nachschauen«, erwiderte ich. Wortlos schloss er sich mir an, und auch sein kleiner weißer Hund folgte uns. »Aber sobald Wind aufkommt, müssen wir sofort zurück«, sagte ich, und K. nickte stumm.
    Das Meer lag nur etwa zweihundert Meter von unserer Straße entfernt. Man hatte dort eine kleine Betonmauer gegen große Brecher errichtet, die etwa so groß war wie ich damals. Ein paar Stufen führten zum Strand. Da wir jeden Tag dort spielten, war uns die Gegend völlig vertraut. Doch im Auge des Taifuns sah alles ganz anders aus als sonst – die Farbe des Himmels, das Rauschen der Wellen, die Weite des Meeres, alles. Wir setzten uns auf den Wellenbrecher und betrachteten wortlos die Szenerie. Obwohl wir uns mitten in einem Taifun befanden, war das Meer erstaunlich ruhig. Das Wasser hatte sich weiter zurückgezogen als sonst sogar bei Ebbe. Soweit wir sehen konnten, erstreckte sich heller Sand. Die riesige leere Fläche wirkte wie ein Zimmer ohne Möbel. Nur Treibgut lag in einer Linie aufgereiht am Strand.
    Wir stiegen vom Damm hinunter zum Strand, gingen ein Stück und begutachteten die angespülten Dinge. Plastikspielzeug, Möbelteile aus Holz, Kleidungsstücke, ungewöhnliche Flaschen, zerbrochene Kisten mit fremder Schrift und andere, weniger eindeutige Gegenstände. Wir fühlten uns wie in einem Süßwarenladen. Die Wellen mussten diese Dinge von weither an unseren Strand getragen haben. Wenn wir etwas Ungewöhnliches entdeckten, hoben wir es auf und untersuchten es von allen Seiten, und K.s Hund kam schwanzwedelnd angerannt, um es ausführlich zu beschnuppern.
    Wir waren höchstens fünf Minuten dort, als ich merkte, dass die Wellen sich genähert hatten. Lautlos und ohne Vorwarnung streckte das Meer seine lange Zunge nach uns aus. Dass es so plötzlich direkt hinter uns war, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber da ich am Meer aufgewachsen war, kannte ich seine Schrecken und die Gewalt, mit der es unerwartet zuschlagen konnte. Deshalb hüteten wir uns auch immer vor der Brandung. Dennoch war das Wasser unbemerkt bis auf etwa zehn Zentimeter an uns herangekrochen, dann zog es sich ebenso lautlos wieder zurück und kam nicht wieder. Es war keineswegs bedrohlich herangebrandet, sondern hatte nur ganz sacht und ruhig den Strand überspült. Dennoch war es unheimlich gewesen, wie die Haut eines Reptils, und mich überlief ein kalter Schauer – keine rationale, aber doch sehr reale Angst. Instinktiv erkannte ich, dass die Wellen lebendig waren. Kein Zweifel. Diese Wellen lebten . Sie wussten, dass ich hier war, und wollten mich in ihre Fänge bekommen. Mir war, als lauerte ein riesiges, menschenfressendes Ungeheuer im Steppengras und träumte davon, mich mit seinen spitzen Zähnen zu zerfleischen und zu verschlingen.
    »Los, wir hauen ab!«, rief ich K. zu, der etwa zehn Meter entfernt mit dem Rücken zu mir im Sand hockte und sich

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