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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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meiner Kindheit verbrachte ich an einem kleinen Ort am Meer in der Präfektur S., der Name würde vermutlich keinem von Ihnen etwas sagen. Mein Vater war dort Arzt, und ich verlebte eine behütete Kindheit. Seit ich denken konnte, hatte ich einen besten Freund. Ich nenne ihn K. Er wohnte ganz in unserer Nähe und war eine Klasse unter mir. Ich kann sagen, dass wir wie Brüder waren. Wir gingen jeden Tag zusammen zur Schule und stritten uns im Laufe unserer ganzen Freundschaft nicht ein einziges Mal. Ich habe auch einen richtigen Bruder, aber da er sechs Jahre älter ist als ich und wir charakterlich sehr verschieden waren, standen wir uns nie besonders nah. Für meinen Freund empfand ich eine weit stärkere brüderliche Zuneigung.
    K. war ein dünnes, blasses Kind, mit einem fast mädchenhaft hübschen Gesicht. Er hatte allerdings einen Sprachfehler, und man verstand ihn schwer; wer ihn nicht kannte, hielt ihn möglicherweise sogar für geistig behindert. Und da er so zart war, spielte ich in der Schule wie außerhalb immer die Rolle seines Beschützers. Ich war ziemlich groß und sportlich, und die anderen Kinder hatten Respekt vor mir. Mit K. war ich besonders gern zusammen, weil er eine so gütige und schöne Seele hatte. Er war nicht im Mindesten zurückgeblieben, aber wegen seiner Sprachbehinderung in der Schule nicht gut; in den meisten Fächern kam er gerade eben mit. Im Zeichnen war er jedoch mit Abstand der Beste. Seine Bilder, ob mit Bleistift oder Farben zu Papier gebracht, waren so ausdrucksvoll und lebendig, dass sie selbst die Lehrer in Erstaunen versetzten. Er gewann Preise und damit öffentliche Anerkennung. Ich bin überzeugt, dass er sich, wenn alles so weitergegangen wäre, als Maler einen Namen gemacht hätte. Er malte gern Landschaften, vor allem Seestücke, und wurde es nie müde, am nahe gelegenen Strand zu zeichnen. Dabei saß ich oft neben ihm und beobachtete voll Erstaunen und Bewunderung die geschickten, präzisen Pinselstriche, mit denen er in wenigen Augenblicken ein weißes Papier mit lebhaften farbigen Formen füllen konnte. Heute ist mir klar, dass er einfach sehr begabt war.
    In jenem Jahr im September wurde unsere Region von einem gewaltigen Taifun heimgesucht. Im Radio hieß es, es sei der schwerste seit zehn Jahren. In aller Eile traf man die nötigen Vorkehrungen, die Schulen und alle Geschäfte im Ort wurden geschlossen. Vom Morgen an nagelten und hämmerten mein Vater und mein Bruder, um das Haus wetterfest zu machen, während meine Mutter in der Küche stand und Proviant für mehrere Tage vorbereitete. Wir füllten Wasser in Flaschen und Thermoskannen ab und packten vorsichtshalber unsere Wertsachen in Rucksäcke, falls wir flüchten mussten. Für die Erwachsenen waren die alljährlich wiederkehrenden Taifune eine Plage und Gefahr, aber für uns Kinder, denen der Ernst der Realität noch fremd war, stellten sie ein großes Vergnügen und ein aufregendes Abenteuer dar.
    Kurz nach Mittag änderte der Himmel plötzlich seine Farbe; etwas Unwirkliches mischte sich hinein. Der Wind begann zu heulen, und der Regen peitschte mit einem seltsam trockenen Prasseln gegen das Haus, als würde Sand dagegengeschleudert. Wir verrammelten auch noch die letzte Tür, und die ganze Familie versammelte sich in einem Zimmer des stockdunklen Hauses, um die Lage am Radio zu verfolgen. Die Regenmenge schien nicht besonders groß zu sein, aber der Sturm richtete viele Schäden an, deckte Dächer ab und brachte Schiffe zum Kentern. Zahlreiche Menschen waren bereits von herumfliegenden Gegenständen getötet oder schwer verletzt worden. Wiederholt warnte der Sprecher davor, Häuser und Wohnungen zu verlassen. Immer wieder ächzte und bebte unser Haus, als würde eine riesige Hand daran rütteln, und manchmal krachte etwas Schweres gegen eine Sturmtür. Mein Vater vermutete, es seien Ziegel von den Dächern der Nachbarhäuser. Zum Mittagessen aßen wir den Reis und die Omelettes, die meine Mutter vorbereitet hatte, und hörten weiter Radio. Alle warteten darauf, dass der Taifun vorüberzog.
    Aber er zog nicht vorüber. Den Nachrichten zufolge hatte er an Geschwindigkeit eingebüßt, als er die Präfektur S erreichte; nun bewegte er sich im Tempo eines Joggers nordostwärts. Der Sturm heulte unermüdlich weiter und versuchte, alles zu entwurzeln und an sich zu reißen, um es ans Ende der Welt zu tragen.
    Seit Beginn des Taifuns war ungefähr eine Stunde vergangen. Plötzlich senkte sich völlige Stille

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