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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ihre frühere Klarheit bewahrt. Wehmut ergriff mich. Sie waren künstlerisch viel besser, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Der Junge K. hatte seine tiefsten Empfindungen hineingelegt, und sein Blick auf die Welt war mir so vertraut wie mein eigener. Ich erinnerte mich lebhaft und in allen Einzelheiten an die Dinge, die wir unternommen hatten, und an die Orte, an denen wir gewesen waren. Ja, genau, so hatte ich damals die Welt gesehen, ungetrübt und lebendig, wie der Junge K. an meiner Seite.
    Von nun an setzte ich mich jeden Tag, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, an den Schreibtisch und sah mir K.s Bilder an. Manchmal versenkte ich mich für Stunden in eines davon. In jedem einzelnen entdeckte ich die sanfte Landschaft meiner Kindheit wieder, die ich so lange aus meinem Gedächtnis verbannt hatte. Beim Betrachten von K.s Bildern war mir, als dringe sanft etwas in mich ein.
    Nach etwa einer Woche kam mir plötzlich ein Gedanke: Vielleicht war ich bis jetzt einem schrecklichen Irrtum erlegen? Vielleicht hatte K., als er im Kamm der Welle trieb, mich gar nicht hasserfüllt angesehen und mich auch nicht mit sich reißen wollen! Vielleicht hatte sogar sein Lächeln nur grausig gewirkt; sicher war er doch gar nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Oder er hatte mir noch einmal sehnsüchtig zugelächelt, da wir uns ja für die Ewigkeit trennen mussten. Der Hass, den ich in seinem Blick erkannt zu haben glaubte, war vielleicht nichts als ein Spiegel der tödlichen Angst gewesen, die damals von mir Besitz ergriffen hatte. Je intensiver ich K.s Aquarelle betrachtete, desto stärker wurde dieses Gefühl. Auch bei genaustem Hinsehen entdeckte ich in ihnen nichts anderes als K.s arglose, unschuldige Seele.
    Lange Zeit blieb ich an meinem Schreibtisch sitzen. Die Sonne ging unter, und die fahle Dämmerung wurde bald von der tiefen Stille einer schier endlosen Nacht abgelöst. Erst als die Dunkelheit an Schwere verlor, wich sie dem Morgen. Die neue Sonne färbte den Himmel hellrot, die Vögel erwachten und erfüllten die Welt mit ihrem Gezwitscher.
    Da wusste ich, dass ich zurück ans Meer musste. Und zwar sofort.
    Ich stopfte ein paar Sachen in eine große Reisetasche, rief in meiner Firma an, sagte, ich müsse plötzlich Urlaub nehmen, und stieg in einen Zug in Richtung Heimat.
    Ich fand nicht mehr das ruhige Küstenstädtchen vor, an das ich mich erinnerte. Während des wirtschaftlichen Aufschwungs der sechziger Jahre war in der Nähe eine Industriestadt entstanden, und die Landschaft der Umgebung hatte sich stark verändert. Aus dem einen kleinen Andenkenladen am Bahnhof waren Dutzende geworden, und das einzige Kino des Ortes hatte man zu einem großen Supermarkt umgebaut. Auch unser Haus stand nicht mehr. Es war einige Monate zuvor abgerissen worden, und das Grundstück, auf dem es gestanden hatte, war kahl. Sämtliche Bäume im Garten hatte man gefällt, und auf der dunklen Erde wucherte überall Unkraut. K.s altes Haus war ebenfalls verschwunden; es war einem betonierten Parkplatz für Pendler gewichen. Doch all das tat mir nicht weh. Die Stadt war längst nicht mehr die meine.
    Ich ging zum Strand und stieg die Stufen zum Damm hinauf. Dahinter lag wie früher, unverändert, unbeeinträchtigt, der weite Ozean mit der fernen Linie des Horizonts. Auch die Küste hatte sich kaum verändert. Es war noch der gleiche Sandstrand, an den wie früher die Wellen schlugen und den wie früher Menschen entlangschlenderten. Es war nach vier Uhr nachmittags, die Sonne neigte sich ganz langsam, fast nachdenklich, gen Westen, und ein mildes Licht ergoss sich über die gesamte Szenerie. Ich stellte meine Tasche ab, setzte mich in den Sand und nahm stumm die Landschaft meiner Vergangenheit in mich auf. Dass einst ein gewaltiger Taifun hier gewütet und eine Riesenwelle meinen besten Freund verschlungen hatte, war unvorstellbar. Wahrscheinlich gab es kaum noch jemanden, der sich an das schreckliche Ereignis vor vierzig Jahren erinnern konnte. Fast schon kam mir die ganze Geschichte wie ein besonders lebhaftes Produkt meiner Phantasie vor.
    Unversehens wurde mir bewusst, dass die tiefe Dunkelheit in meinem Inneren verschwunden war – ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Langsam erhob ich mich und ging zum Wasser. Dann trat ich, ohne die Schuhe auszuziehen und die Hosen aufzukrempeln, bis zu den Knöcheln in die Brandung. Fast versöhnlich und liebevoll umspülten die Wellen auf dem Strand meiner Kindheit meine Füße,

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