Blinde Weide, Schlafende Frau
damit sagen, dass meine Schuldgefühle – Schuldgefühle, die mir nicht bewusst waren – mich in Form von Erbrechen und eingebildeten Telefonanrufen eingeholt haben?«
»Nein, ich will das nicht sagen«, verbesserte ich ihn. »Du sagst das.«
»Hm.« Er nahm einen Schluck Whiskey und schaute zur Decke.
»Es gibt auch noch andere Möglichkeiten«, sagte ich. »Einer der betrogenen Männer könnte einen Privatdetektiv auf dich angesetzt haben und ihn die Anrufe machen lassen, um sich an dir zu rächen oder dich zu warnen. Und das Erbrechen kam von irgendeinem vorübergehenden körperlichen Unwohlsein, das zufällig zur gleichen Zeit bestand.«
»Hm, das klingt schon einleuchtend«, sagte er. »Du bist ja auch Schriftsteller. Aber deine Vermutung mit dem Detektiv hat einen Haken: Ich habe ja nicht aufgehört, mit den Frauen zu schlafen – warum gab es dann plötzlich keine Anrufe mehr? Das passt doch nicht zusammen.«
»Vielleicht hat er die Geduld verloren, oder ihm ist das Geld für den Detektiv ausgegangen. Aber das sind nur Hypothesen, davon könnte ich hundert oder zweihundert aus dem Ärmel schütteln. Die Frage ist, welche davon du akzeptierst. Und was du daraus lernst.«
»Was ich daraus lerne?«, fragte er verdutzt. Für einen Moment drückte er sich den Boden seines Whiskeyglases an die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Wie du dich verhältst, wenn es wieder passiert, natürlich. Beim nächsten Mal dauert es vielleicht nicht nur vierzig Tage – bis Dinge, die ohne Grund begonnen haben, auch ohne Grund wieder enden. Es könnte auch das Gegenteil passieren.«
»Das wäre je ekelhaft, sag so was nicht.« Er gluckste vor sich hin. »Schon komisch, bevor du das gesagt hast, bin ich nie auf die Idee gekommen, dass sich so etwas wiederholen könnte. Meinst du wirklich, dass es sich wiederholen wird?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich.
Er schwenkte seinen Whiskey, ließ das Eis klirren, trank das Glas in ein paar Schlucken aus und setzte es ab. Dann griff er nach einem Taschentuch und schnäuzte sich ein paar Mal.
»Vielleicht trifft es beim nächsten Mal ja jemand anderen. Zum Beispiel dich, Murakami. Du bist doch sicher auch kein unbeschriebenes Blatt, oder?«
Seither kommen wir weiter gelegentlich zusammen, zwei, drei Mal im Jahr vielleicht, um unsere alles-andere-als-avantgardistischen Platten zu tauschen und etwas zu trinken. Glücklicherweise wurde bisher weder er noch ich von Erbrechen oder Telefonanrufen heimgesucht.
Der siebte Mann
»Einmal wäre ich beinahe von einer Welle fortgerissen worden. Das war an einem Nachmittag im September, als ich zehn war«, sagte der siebte Mann leise.
Damit begann er als Letzter an diesem Abend seine Geschichte zu erzählen. Der Stundenzeiger der Uhr war über die Zehn hinausgerückt.
Die Menschen, die in diesem Zimmer zusammensaßen, lauschten dem Heulen des Windes, der draußen in der Dunkelheit gen Westen stürmte. Er fuhr durch die Bäume im Garten und rüttelte an den Fenstern, bevor er noch einmal ums Haus pfiff und davonbrauste.
»Es war die riesigste Welle, die ich je gesehen hatte«, fuhr der Mann fort. »Eine ganz außergewöhnliche, merkwürdige Welle.« Er ließ eine Pause entstehen.
»Ich bin ihr knapp entgangen, doch dafür verschlang sie alles, was mir wichtig war, und riss es mit sich in eine andere Welt. Es dauerte Jahre, bis ich es wiedergefunden und mich erholt hatte. Lange, kostbare Jahre, die ich nie wieder einholen kann.«
Der siebte Mann war etwa Mitte fünfzig, lang und dünn. Er trug einen Schnurrbart und hatte am rechten Auge eine kleine, aber tiefe Narbe wie von einem scharfen Messer. Sein kurzes Haar wies hier und da weiße, borstige Stellen auf. Sein Gesicht wirkte wie dasjenige von Menschen, die gerade nicht recht wissen, wie sie sich ausdrücken sollen. Bei ihm schien diese Miene jedoch längst zur Gewohnheit geworden zu sein. Unter seinem grauen Tweed-Jackett trug er ein blaues Hemd, an dessen Kragen er hin und wieder herumnestelte. Keiner wusste, wie er hieß und wovon er lebte.
Der siebte Mann räusperte sich und verfiel in ein kurzes Schweigen. Niemand sagte etwas, und alle warteten darauf, dass er fortfuhr.
» In meinem Fall war es eine Welle. Natürlich weiß ich nicht, was es in Ihrem Fall sein könnte, aber für mich war es eben zufällig diese Welle. Es türmte sich eines Tages ohne Vorwarnung plötzlich in Gestalt einer Riesenwelle vor mir auf. Und die Wirkung war vernichtend.«
Die ersten Jahre
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