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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Gefühl, gleich werde jemand anklopfen. Es waren immer andere Besucher, mal Fremde, mal Bekannte. Einmal war es ein Mädchen mit schlanken Beinen, mit der ich in der Oberschulzeit ausgegangen war, und einmal stattete mir sogar ein früheres Ich einen Besuch ab. Auch William Holden schaute mal mit Jennifer Jones vorbei.
    William Holden ?
    Allerdings wagte sich keiner von ihnen tatsächlich in meine Wohnung. Sie trieben sich nur als Erinnerungsfetzen vor der Tür herum und verschwanden irgendwann, ohne angeklopft zu haben.
    Draußen regnete es.

    Frühling, Sommer und Herbst, ich kochte immer weiter Spaghetti, als wäre das ein Racheakt. Wie ein einsames, sitzen gelassenes Mädchen die Briefe ihres früheren Geliebten einen nach dem anderen in den Kamin wirft, kochte ich schweigend eine Portion Spaghetti nach der anderen.
    In einer Schüssel knetete ich aus den niedergetretenen Schatten der Zeit einen deutschen Schäferhund, warf ihn ins kochende Wasser und streute Salz dazu. Dann beugte ich mich, lange Stäbchen in der Hand, darüber, ohne mich auch nur einen Schritt fortzubewegen, bis der Küchenwecker schrillte.
    Spaghetti zu kochen ist eine äußerst heikle Angelegenheit. Man darf sie nicht aus den Augen lassen. Jederzeit können sie über den Rand des Kochtopfs flutschen und im Dunkeln verschwinden. Wie der tropische Dschungel farbenprächtige Schmetterlinge in die Unendlichkeit saugt, lauerte die Nacht mit angehaltenem Atem auf entschlüpfte Spaghetti.

    Spaghetti alla parmigiana
    Spaghetti alla neapolitana
    Spaghetti alla prematura
    Spaghetti al cartoccio
    Spaghetti al aglio e olio
    Spaghetti alla carbonara
    Spaghetti della pina

    Und dann sind da noch die armen, namenlosen, übrig gebliebenen Spaghetti, die achtlos in den Kühlschrank gestellt werden.
    In der Hitze geboren, wurden die Spaghetti vom Strom des Jahres 1971 hinuntergespült und verschwanden.
    Ich trauere ihnen nach, all den Spaghetti des Jahres 1971.

    Als um zwanzig nach drei das Telefon klingelte, lag ich auf den Tatami und starrte zur Decke. Die Wintersonne hatte genau an der Stelle, an der ich lag, eine Lichtpfütze gebildet. Im Dezember 1971 lag ich dort wie eine tote Fliege, tatenlos, stundenlang.
    Anfangs nahm ich das Klingeln gar nicht als solches wahr. Es war eher wie ein unvertrautes Erinnerungsfragment, das sich zögernd zwischen die atmosphärischen Schichten schob. Durch ständige Überlagerung nahm es allmählich Form an, bis es am Ende zweifelsfrei zu dem wurde, was es war – ein hundertprozentiges Telefonläuten. Im Liegen streckte ich den Arm aus und hob ab.
    Die Stimme der Anruferin klang so dünn und undeutlich, dass sie bis halb fünf vielleicht völlig verschwunden sein würde. Sie gehörte der ehemaligen Freundin eines meiner Freunde. Er und das undeutliche Mädchen waren aus irgendeinem Grund zusammengekommen und hatten sich aus einem anderen unklaren Grund wieder getrennt. Bei ihrer Begegnung hatte ich, wenn auch zögerlich, eine gewisse Rolle gespielt.
    »Entschuldige die Störung«, sagte sie, »aber weißt du, wo er jetzt ist?«
    Ich inspizierte den Hörer und verfolgte mit den Augen die Telefonschnur. Sie waren korrekt verstöpselt. Ich antwortete ausweichend. Die Stimme des Mädchens verhieß nichts Gutes, und ich wollte in nichts hineingezogen zu werden.
    »Niemand will es mir sagen«, sagte sie frostig. »Alle tun so, als wüssten sie’s nicht. Aber es ist dringend. Also bitte, sag es mir, und ich behellige dich nicht weiter. Wo ist er?«
    »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe ihn ewig nicht gesehen«, erwiderte ich in einem Ton, der mir selbst fremd war. Ich hatte ihn wirklich lange nicht gesehen, aber natürlich hatte ich seine Adresse und Telefonnummer. Wenn ich lüge, klingt meine Stimme immer eigenartig.
    Sie schwieg.
    Der Hörer fühlte sich auf einmal an wie ein Stab aus Eis. Dann wurde alles um mich her zu Eis, wie in einer Science-Fiction-Geschichte von J. G. Ballard.
    »Ich weiß es wirklich nicht«, beteuerte ich. »Er ist vor einiger Zeit verschwunden, ohne etwas zu sagen.«
    Sie lachte.
    »Mir kannst du nichts vormachen. So verschwiegen ist der Kerl nicht, ich kenne ihn schließlich auch. Der tut doch keinen Schritt ohne großes Tamtam.«
    Sie hatte natürlich Recht. Der Zurückhaltendste war er wirklich nicht.
    Dennoch würde ich ihr nicht sagen, wo er sich aufhielt, sonst hätte ich ihn als Nächsten am Telefon. Ich hatte keine Lust mehr, mich in die Reibereien anderer Leute hineinziehen zu

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