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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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lassen. Darum hatte ich eines Tages alles in einem tiefen Loch im Garten vergraben. Wo es niemand mehr ausbuddeln konnte.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Du kannst mich nicht leiden, stimmt’s?«, sagte sie plötzlich.
    Was sollte ich darauf antworten? Ich hatte nichts gegen sie. Eigentlich hatte ich gar keinen Eindruck von ihr, also auch keinen schlechten.
    »Tut mir leid«, sagte ich noch einmal. »Ich koche gerade Spaghetti.«
    »Wie bitte?«
    »Ich koche Spaghetti«, log ich. Warum, weiß ich nicht. Aber es war eine Lüge, die mir sehr geläufig war – so geläufig, dass sie mir in diesem Moment gar nicht wie eine Lüge vorkam.
    Ich ließ imaginäres Wasser in den Topf laufen und zündete mit einem imaginären Streichholz den Herd an.
    »Und?«, sagte sie.
    Ich streute imaginäres Salz ins kochende Wasser, ließ ein imaginäres Bündel Spaghetti hineingleiten und stellte die imaginäre Kochuhr auf zwölf Minuten ein.
    »Deshalb muss ich jetzt auflegen. Sonst verklumpen sie.«
    Sie schwieg.
    »Entschuldige, aber Spaghetti zu kochen ist eine heikle Sache.«
    Sie schwieg noch immer. Der Hörer in meiner Hand bewegte sich wieder auf den Gefrierpunkt zu.
    »Kannst du mich später noch einmal anrufen?«, beeilte ich mich hinzuzufügen.
    »Weil du jetzt gerade Spaghetti kochst?«, fragte sie.
    »Genau.«
    »Machst du die Spaghetti für jemanden oder isst du sie allein?«
    »Ich esse sie allein.«
    Sie hielt lange den Atem an, dann holte sie tief Luft. »Ich sitze wirklich in der Klemme. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
    »Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann«, sagte ich.
    »Es geht auch um Geld.«
    »Aha.«
    »Ich habe ihm Geld geliehen. Natürlich hätte ich das nicht tun sollen, aber es ging nicht anders. Und jetzt brauche ich es zurück.«
    Einen Moment lang schwieg ich und dachte an Spaghetti. »Tut mir leid«, sagte ich zum xsten Mal. »Aber meine Spaghetti.«
    Sie lachte kraftlos. »Mach’s gut«, sagte sie. »Grüß deine Spaghetti von mir. Hoffentlich sind sie gut.«
    »Mach’s gut.« Ich legte auf.
    Die Sonnenpfütze auf dem Boden war um einige Zentimeter weitergewandert. Ich legte mich wieder hinein und schaute zur Decke.

    An Spaghetti zu denken, die ewig kochen und niemals gar werden, ist traurig.
    Inzwischen bereue ich es ein wenig, ihr damals nichts gesagt zu haben. Ihr früherer Freund war kein besonders sympathisches Exemplar; er war ein hohler Mensch, der sich für einen Künstler hielt, und ein vorlauter Angeber, dem niemand über den Weg traute. Sie war sicher wirklich in Geldnot gewesen. Außerdem hat man geliehenes Geld immer zurückzuzahlen, ganz gleich unter welchen Umständen.
    Hin und wieder frage ich mich, was wohl aus ihr geworden ist. Meistens, wenn ich gerade Spaghetti esse. Hatten die Schatten um halb fünf Uhr nachmittags sie verschluckt, nachdem sie aufgelegt hatte? War sie nun verschwunden? Wäre ich dann nicht mitverantwortlich dafür? Aber ich möchte, dass Sie mich verstehen: Damals wollte ich mit niemandem etwas zu tun haben. Darum kochte ich unentwegt Spaghetti, nur für mich. In dem großen Topf, in den ein Deutscher Schäferhund gepasst hätte.

    Durum semolina, goldener Weizen, der auf italienischen Feldern wogt.
    Wie erstaunt die Italiener wären, wenn sie wüssten, dass sie 1971 Einsamkeit exportiert haben.

Tony Takitani
    Tony Takitani war wirklich Tony Takitanis richtiger Name.
    Deshalb und wegen seiner markanten Gesichtszüge und gewellten Haare war er oft für ein Mischlingskind gehalten worden. (Auf seiner Geburtsurkunde stand natürlich Tony Takitani.) Dazu kam, dass kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verhältnismäßig viele Kinder geboren wurden, deren Väter amerikanische Soldaten waren. In Wirklichkeit jedoch waren Tony Takitanis Eltern ohne den Schatten eines Zweifels waschechte Japaner. Sein Vater, Shozaburo Takitani, war einst in Japan ein recht bekannter Jazz-Posaunist gewesen, hatte jedoch vier Jahre vor Ausbruch des Pazifikkrieges wegen einer Frauengeschichte Tokyo verlassen müssen. Wenn schon, denn schon, hatte er sich damals gedacht und war mit kaum mehr als seinem Instrument im Gepäck nach China übergesetzt. Damals war Schanghai eine Tagesreise mit dem Schiff von Nagasaki entfernt. Er hatte nichts zu verlieren, und da ihn weder in Tokyo noch anderswo in Japan etwas hielt, fiel ihm der Abschied nicht sonderlich schwer. Überdies lockte das Schanghai jener Tage mit einer faszinierenden Atmosphäre, die seinem Wesen eher angemessen

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