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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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durchnässten meine Schuhe und Hosensäume. Langsam brandete eine Welle heran und rollte zurück, dann eine Pause, und die nächste überschlug sich und wich zurück. Spaziergänger starrten mich verwundert an, aber das kümmerte mich nicht. Endlich, nach so vielen Jahren war ich wieder angekommen.
    Ich sah hinauf zum Himmel, an dem kleine, graue, wattebauschartige Wolken standen. Als gäbe es keinen Wind, blieben sie die ganze Zeit an der gleichen Stelle. Sie schienen nur für mich da zu sein; warum ich es so empfand, hätte ich nicht sagen können. Mir fiel ein, dass ich als Junge auf der Suche nach dem großen Auge des Taifuns genauso in den Himmel geschaut hatte. In diesem Moment kam die Achse der Zeit ächzend zum Stehen. Vierzig Jahre stürzten ineinander wie ein baufälliges Haus, und alte und neue Zeit vermischten sich zu einer einzigen wirbelnden Masse. Alle Geräusche verstummten, und das Licht um mich herum geriet ins Schwanken. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und meine Arme und Beine waren wie taub. Längere Zeit blieb ich mit dem Gesicht im Wasser liegen; aufstehen konnte ich nicht. Aber ich hatte keine Angst. Wirklich, ich hatte nichts mehr zu befürchten. Es war vorbei.
    Seither habe ich keine Albträume mehr und wache nachts nicht mehr schreiend auf. Und ich versuche, ein neues Leben anzufangen. Ich weiß, dass es dazu vielleicht zu spät ist und mir nicht mehr genug Zeit bleibt. Dennoch bin ich dankbar, dass ich am Ende erlöst, bis zu einem gewissen Grad sogar geheilt wurde. Ja, ich bin dankbar dafür. Immerhin wäre es möglich gewesen, dass es keine Rettung gegeben und ich weiter voller Angst in der Dunkelheit aufgeschrieen hätte, bis an mein Lebensende.

    Die siebte Mann sah schweigend in die Runde. Niemand sagte etwas, alle schienen reglos und mit angehaltenem Atem auf das Ende seiner Geschichte zu warten. Der Wind hatte sich gelegt, kein Laut war zu hören. Der Mann nestelte wieder an seinem Kragen, als suche er nach Worten.
    »Es heißt, das Einzige, was wir zu fürchten haben, sei die Furcht, aber daran glaube ich nicht«, sagte er. »Natürlich gibt es die Furcht. Sie überwältigt uns in unterschiedlichster Gestalt und wenn wir es am wenigsten erwarten. Doch das Fürchterlichste, was wir in solchen Zeiten tun können, ist, die Augen vor ihr zu verschließen und sich von ihr abzukehren. Denn damit überlassen wir das Wertvollste in uns etwas anderem. In meinem Fall der Welle.«

Im Jahr der Spaghetti
    1971 war das Jahr der Spaghetti.
    1971 kochte ich Spaghetti, um zu leben, und lebte, um Spaghetti zu kochen. Es erfüllte mich mit Freude und Stolz, wenn der Dampf von meinem Aluminiumtopf aufstieg, und die in der Kasserolle brodelnde Tomatensoße war der Gipfel meiner Sehnsüchte.
    In einem Spezialgeschäft für Küchenzubehör hatte ich einen Küchenwecker und einen Aluminiumtopf gekauft, groß genug, um als Badewanne für einen deutschen Schäferhund zu dienen. Ich durchforstete die Supermärkte für ausländische Lebensmittel und erstand eine Reihe von Gewürzen mit fremdartigen Namen. Schließlich besorgte ich mir noch ein Spaghettikochbuch und massenweise Tomaten. Ich kaufte jede nur mögliche Nudelform und kochte jede nur mögliche Soße. Ein ständiger Geruch nach Knoblauch, Zwiebeln und Olivenöl hing in meiner kleinen Wohnung. Winzigste Teilchen verbanden sich zu einem harmonischen Dunst, der in jede Ritze drang und von Boden, Decke, Wänden, Kleidung, Büchern, Schallplattenhüllen, dem Tennisschläger und den Stapeln alter Briefe aufgesogen wurde. Ein Duft wie von einem altrömischen Aquädukt.
    1971, im Jahr der Spaghetti, trug sich folgende Geschichte zu.

    In der Regel kochte ich meine Spaghetti für mich und aß sie allein. Hin und wieder lud ich auch jemanden dazu ein, aber eigentlich aß ich sie viel lieber allein. Damals fand ich, Spaghetti gehörten zu den Gerichten, die man am besten allein verzehren sollte. Erklären kann ich’s nicht, aber so war’s.
    Zu den Spaghetti aß ich immer einen leichten Salat aus Salatblättern und Gurke und trank schwarzen Tee. Ich sorgte dafür, dass genügend von beidem vorhanden war. Ich deckte ordentlich den Tisch, aß gemächlich und überflog dabei die Zeitung. Von Sonntag bis Samstag war bei mir Spaghettitag, und am Sonntag begann die neue Spaghettiwoche.
    Sobald ich mich an meine Spaghetti setzte, überkam mich – besonders an verregneten Nachmittagen – stets das untrügliche

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