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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sie, aus welchen Gründen auch immer, die Beziehung zu ihrem Freund nicht einfach abbrechen. Überdies war da noch der fünfzehnjährige Altersunterschied zwischen ihr und Tony Takitani. Sie war noch jung, es fehlte ihr an Lebenserfahrung, und sie musste sich überlegen, welche Auswirkungen diese Kluft vielleicht später haben würde. Kurz, sie bat um etwas Bedenkzeit.
    Während sie überlegte, betrank sich Tony Takitani jeden Tag. Er war nicht einmal imstande zu arbeiten. Seine Einsamkeit wurde ihm plötzlich zu einer drückenden, quälenden Last und zu einem Gefängnis. Wieso hatte er davon bisher nichts gemerkt? Voller Verzweiflung starrte er auf die dicken, kalten Mauern, die ihn umgaben. ›Vielleicht sterbe ich, wenn sie mich nicht heiraten will‹, dachte er.
    Er ging zu ihr und erzählte ihr alles. Wie einsam sein Leben bisher gewesen sei, wie viel er verpasst habe. Und dass ihm dies erst durch sie bewusst geworden sei.
    Sie war ein kluges Mädchen. Und sie hatte Tony Takitani liebgewonnen. Er war ihr von Anfang an sympathisch gewesen, und jedes Mal, wenn sie sich getroffen hatten, war er ihr ein bisschen mehr ans Herz gewachsen. Ob man das Liebe nennen konnte, wusste sie nicht. Aber sie spürte, dass in ihm etwas Wunderbares schlummerte. Außerdem glaubte sie, dass er sie glücklich machen würde. Und so heirateten die beiden.
    Tony Takitanis einsames Dasein hatte ein Ende gefunden. Morgens, wenn er aufwachte, tastete er als Erstes nach ihr, um mit Erleichterung festzustellen, dass sie neben ihm lag. Fand er sie nicht neben sich, wurde er unruhig und suchte das ganze Haus nach ihr ab. Es war ein ungewohnter Zustand für ihn, nicht einsam zu sein. Die Furcht davor, was er tun würde, sollte er eines Tages wieder einsam sein, verfolgte ihn wie ein Schatten. Wenn er darüber nachdachte, brach ihm vor lauter Angst der kalte Schweiß aus. Etwa drei Monate nach der Hochzeit verließen ihn diese Ängste. Sobald er sich an sein neues Leben gewöhnt hatte und die Wahrscheinlichkeit, dass seine Frau unvermittelt verschwinden würde, geringer geworden war, ließ auch seine Furcht allmählich nach. Er entspannte sich und schwamm in einem friedlichen Meer von Glück.
    Einmal besuchten die beiden einen Auftritt von Shozaburo Takitani. Sie hatte sich dafür interessiert, welche Art von Musik ihr Schwiegervater machte. »Meinst du, es würde deinem Vater etwas ausmachen, wenn wir mal hingingen?«, hatte sie gefragt. »Ich glaube kaum«, hatte er erwidert. Also fuhren sie in den Club in Ginza, wo Shozaburo Takitani auftrat. Es war das erste Mal seit seiner Kindheit, dass Tony Takitani seinen Vater spielen hörte. Er spielte genau die gleiche Musik wie früher, die gleichen Melodien, die Tony als Kind auf Platte gehört hatte. Das Spiel seines Vaters klang geschmeidig, elegant und süß. Es war keine große Kunst, aber doch die Darbietung eines hervorragenden Musikers, der die Fähigkeit besaß, sein Publikum in eine heitere Stimmung zu versetzen. Ausnahmsweise genehmigte sich Tony Takitani ein paar Drinks, während er der Musik lauschte.
    Nach einer Weile begann irgendetwas an der Musik ihm die Luft abzudrücken. Er fühlte sich wie eine dünne Röhre, die sich langsam, aber sicher mit Unrat füllt, und es wurde ihm sehr unwohl. Ihm war, als unterschiede sich diese Musik von derjenigen, die sein Vater in seiner Erinnerung gespielt hatte. Natürlich lag das alles sehr lange zurück, und damals hatte er sie mit den Ohren eines Kindes gehört. Nichtsdestoweniger empfand er diesen Unterschied als schwerwiegend. Er war minimal, aber bedeutsam. Am liebsten wäre er auf die Bühne gestürzt, hätte seinen Vater am Arm gepackt und ihn gefragt: »Was ist so anders daran, Vater?« Selbstverständlich tat er nichts dergleichen, sondern trank wortlos seinen Whiskey Soda und folgte dem Auftritt seines Vater bis zum Ende. Seine Frau und er applaudierten und fuhren nach Hause.

    Kein Schatten trübte das eheliche Glück der beiden. Nie stritten sie sich. Auch in seinem Beruf lief alles unverändert glatt. Sie gingen oft spazieren, schauten sich Filme an und unternahmen Reisen. Für ihr Alter war sie eine bemerkenswert gute Hausfrau, die es verstand, in allem das richtige Maß zu halten. Voller Energie erledigte sie alle Hausarbeiten, ohne ihrem Mann unnötige Sorgen zu bereiten. Es gab nur eine einzige Sache, die Tony Takitani ein wenig belastete. Er fand, dass seine Frau zu viele Kleider kaufte. Sobald ihr ein Kleidungsstück unter die

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