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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Weile zusammengelebt. Den Drang zu heiraten hatte er allerdings nie verspürt und auch kaum darüber nachgedacht. Kochen, waschen und Ordnung machen konnte er selbst, und wenn er mit seiner Arbeit zu beschäftigt war, stellte er einfach eine Haushälterin ein. Kinder wünschte er sich auch nicht. Er hatte nach wie vor keine engen Freunde, die ihn um Rat fragten oder ihm ihr Herz ausschütteten. Nicht einmal Trinkkumpane hatte er. Nicht dass er deshalb verschroben gewesen wäre. Wenn er auch nicht den Charme seines Vaters besaß, war er doch in der Lage, einen ganz normalen, alltäglichen Umgang mit anderen zu pflegen. Er war weder eingebildet noch großspurig. Nie suchte er die Schuld für etwas bei anderen oder redete schlecht über jemanden. Statt über sich selbst zu sprechen, hörte er lieber zu, und deswegen mochten ihn die meisten Menschen in seiner Umgebung. Freilich unterhielt er zu niemandem eine engere Beziehung, die über die konkrete, alltägliche Ebene hinausging. Seinen Vater sah er höchstens zwei, drei Mal im Jahr, wenn es etwas Geschäftliches zwischen ihnen zu regeln gab. Doch kaum war alles erledigt, hatten die beiden einander nicht mehr viel zu sagen.

    Ruhig und ereignislos floss Tony Takitanis Leben dahin. ›Wahrscheinlich werde ich nie heiraten‹, dachte er. Doch eines Tages, ganz plötzlich, verliebte er sich. Das Mädchen jobbte in einem Verlag, für den er arbeitete, und kam in sein Büro, um Illustrationen abzuholen. Sie war zweiundzwanzig. Die ganze Zeit, in der sie in seinem Büro war, umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Sie hatte ein sympathisches, hübsches Gesicht, war aber nicht direkt eine Schönheit. Dennoch hatte sie etwas an sich, das Tony Takitanis Herz einen heftigen Stoß versetzte. Im selben Moment, als er sie sah, verkrampfte sich seine Brust, sodass es ihm den Atem nahm. Was es war, das sein Herz in solchen Aufruhr versetzte, wusste er nicht. Und selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er es mit Worten nicht erklären können.
    Als Nächstes erregte ihre Art, sich zu kleiden, seine Aufmerksamkeit. Eigentlich hatte er sich für Kleidung nie besonders interessiert. Er war kein Mann, der bei einer Frau auf ihre Aufmachung achtete, aber dieses Mädchen trug seine Garderobe mit so offenkundigem Wohlbehagen, dass er tief beeindruckt war. Man konnte sogar sagen, ihr Anblick rührte ihn. Viele Frauen kleideten sich elegant und noch mehr putzten sich heraus, um Blicke auf sich zu ziehen, aber bei ihr war es etwas ganz anderes. Sie trug ihre Kleidung so natürlich und voller Anmut wie ein Vogel, der sich bereit macht, in eine ferne Welt zu fliegen, und in einen besonderen Wind eintaucht. Es wirkte, als streife sie ihre Kleidung über wie ein neues Lebensgefühl. Nachdem sie das Manuskript entgegengenommen, sich bedankt hatte und wieder gegangen war, blieb Tony Takitani wie erstarrt und unfähig, weiter zu arbeiten, an seinem Schreibtisch sitzen, bis der Abend kam und es dunkel im Zimmer wurde.
    Am nächsten Tag rief er in dem Verlag an, um die junge Frau unter einem Vorwand noch einmal in sein Büro zu bestellen. Als alles erledigt war, lud er sie zum Mittagessen ein, und sie unterhielten sich. Ungeachtet des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren hatten sie einander erstaunlich viel zu sagen. In allen Themen, die sie berührten, waren sie einer Meinung. Er erlebte so etwas zum ersten Mal, und ihr ging es nicht anders. Obwohl sie anfangs nervös und aufgeregt war, entspannte sie sich mit der Zeit, lachte oft und wurde immer gesprächiger. »Sie kleiden sich wunderbar«, sagte Tony Takitani ihr zum Abschied. »Ich mag Kleidung«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. »Und ich gebe fast mein ganzes Geld dafür aus.«
    Danach verabredeten sich die beiden noch öfter. Statt etwas Besonderes zu unternehmen, saßen sie lieber irgendwo beisammen und unterhielten sich. Sie erzählten einander von ihrer Vergangenheit und vertrauten sich ihre Gedanken und Gefühle zu diesem oder jenem an. Unablässig redeten sie, ohne dass ihnen je der Gesprächsstoff ausging. Sie redeten und redeten, als fülle einer für den anderen eine innere Leere auf. Bei ihrer fünften Verabredung machte Tony Takitani ihr einen Heiratsantrag. Allerdings hatte sie seit der Oberschule einen festen Freund, mit dem sie aber in letzter Zeit nicht mehr sehr gut auskam; sooft sie sich trafen, gerieten sie wegen geringster Lappalien in Streit. In Tony Takitanis Gesellschaft fühlte sie sich viel wohler. Dennoch konnte

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