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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Seit er denken konnte, war sein Vater mit seiner Band unterwegs. Als er klein gewesen war, hatte sich eine Haushälterin um ihn gekümmert. Ab der fünften oder sechsten Klasse konnte er sich selbst versorgen. Er kochte allein, schloss das Haus ab und ging allein zu Bett, ohne sich je besonders einsam zu fühlen. Es kam ihm sogar entgegen, alles so zu machen, wie er es wollte, statt ständig jemanden um sich zu haben.

    Nach dem Tod seiner Frau heiratete Shozaburo Takitani nicht wieder. Natürlich hatte er nach wie vor jede Menge Freundinnen, brachte aber nie eine von ihnen mit nach Hause. Wie sein Sohn war er es gewöhnt, sich um sich selbst zu kümmern. In ihrer Lebensweise waren Vater und Sohn einander weniger fremd, als man vielleicht geneigt wäre anzunehmen. Da jedoch beide gleichermaßen mit der Einsamkeit vertraut waren, ging keiner auf den anderen zu oder verspürte das Bedürfnis, ihm sein Herz zu öffnen. Shozaburo Takitani eignete sich nicht zum Vater, und auch Tony Takitani besaß wenig Eignung zum Sohn.
    Tony Takitani zeichnete so gern, dass er jeden Tag allein in seinem Zimmer saß und sich mit nichts anderem beschäftigte. Am liebsten zeichnete er Maschinen, und er war ein Meister darin, mit nadelspitzem Bleistift detaillierte Zeichnungen von Fahrrädern, Radios, Motoren und Ähnlichem anzufertigen. Auch wenn er Blumen zeichnete, arbeitete er jede einzelne Ader der Blätter fein heraus. Auf andere Art zu zeichnen lag ihm nicht. Seine Leistungen in den übrigen Fächern waren nicht gerade überragend, aber in Kunst war er immer der Beste und gewann bei Schulwettbewerben meistens den ersten Preis.
    So war es auch selbstverständlich für ihn, dass er nach der Oberschule auf eine Kunstakademie ging, um Illustrator zu werden. (Seit Tony Takitani Student war, lebten Vater und Sohn getrennt, ohne sich abgesprochen zu haben.) Faktisch hatte für Tony Takitani keine Notwendigkeit bestanden, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Während die anderen jungen Leute sich über ihre Zukunft das Hirn zermarterten, saß er weiter schweigsam über seinen präzisen Zeichnungen, ohne an etwas anderes zu denken. Da es aber die Zeit war, in der die meisten jungen Leute leidenschaftlich und gewalttätig gegen jegliche Autorität rebellierten, gab es in seiner Umgebung niemanden, der seine äußerst realistischen Bilder gewürdigt hätte. Sogar die Lehrer an der Kunsthochschule belächelten seine Zeichnungen, und seine Kommilitonen kritisierten ihren Mangel an ideologischer Aussage. Tony Takitani seinerseits verstand absolut nicht, worin der Wert ihrer »ideologisch aussagekräftigen« Werke bestehen sollte. In seinen Augen waren sie bloß unreif, hässlich und ungenau.
    Nachdem er die Kunstakademie abgeschlossen hatte, verkehrte sich seine Situation jedoch ins Gegenteil. Gerade wegen seiner extrem präzisen Zeichentechnik und der praktischen Verwendbarkeit seiner Werke hatte Tony Takitani von Anfang an keinerlei Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Es gab kaum jemanden, der komplizierte Maschinen und Architektur so detailgetreu nachzeichnen konnte wie er. »Sie sehen echter aus als in Wirklichkeit«, sagten die Leute. Seine Zeichnungen waren plastischer als Fotografien und leichter zu verstehen als jede Erläuterung. Im Nu wurde er zu einem hochbegehrten Illustrator. Von Titelblättern für Automagazine bis hin zu Werbeillustrationen nahm er alle Aufträge an. Die Arbeit machte ihm Spaß, und er verdiente gutes Geld.

    Währenddessen widmete Shozaburo Takitani sich ganz seiner Posaune. Modern Jazz kam auf, dann Free Jazz, dann Elektronik-Jazz. All die Zeit über blieb Shozaburo Takitani unverändert seinem Stil treu. Er galt nicht als hochkarätiger Musiker, aber sein Name verkaufte sich, und es fehlte ihm nie an Engagements. Er aß gut, und über einen Mangel an weiblichen Bekanntschaften konnte er sich auch nicht beklagen. Unter dem Gesichtspunkt der Zufriedenheit betrachtet, führte er ein durchaus gelungenes Leben.
    Tony Takitani arbeitete sogar in seiner Freizeit, und da er keine anderen Hobbys besaß, die ihn Geld gekostet hätten, hatte er mit fünfunddreißig Jahren ein kleines Vermögen angehäuft, von dem er sich ein geräumiges Haus im Tokyoter Stadtteil Setagaya kaufte. Außerdem gehörten ihm einige Apartments, die er vermietete. Um all das kümmerte sich sein Steuerberater.
    Bis dahin hatte Tony Takitani mehrere Beziehungen zu Frauen gehabt. Als er jünger war, hatte er mit einigen von ihnen sogar eine

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