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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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heraus, in dem man sich über das Alleinsein beklagen kann. Ein anderes Gefühl als das, mit einem Mal um mehrere Jahre gealtert zu sein, kam nicht in ihm auf. Er hatte überlebt und musste sich nun Gedanken machen, wie er weiter überleben würde. Das war alles.
    Da er keinen anderen Beruf hatte, sprach er ein paar alte Bekannte an und gründete eine kleine Jazzkapelle, mit der er in den Clubs der amerikanischen Militärs auftrat. Seine sympathische Art gewann ihm die Freundschaft eines amerikanischen Majors aus New Jersey, der Jazzliebhaber war. Der Major war italienischer Abstammung und spielte selbst ziemlich gut Klarinette. Da er in einer Versorgungseinheit arbeitete, konnte er nach Belieben Schallplatten aus Amerika beschaffen. In ihrer Freizeit besuchte ihn Shozaburo Takitani oft in seiner Kaserne, und sie machten zusammen Musik oder tranken Bier und lauschten dem heiteren Jazz von Bobby Hackett, Jack Teagarden und Benny Goodman, wobei Shozaburo Takitani mit Feuereifer die Noten mitschrieb. Der Major versorgte ihn außerdem mit allen möglichen Genussmitteln, Milch und Alkohol, die in jenen Tagen selten und schwer zu bekommen waren. Keine schlechte Zeit, dachte Shozaburo Takitani.

    1947 verheiratete er sich mit einer entfernten Cousine mütterlicherseits. Wie durch Zufall war ihm seine Braut eines Tages in der Stadt über den Weg gelaufen. Die beiden hatten miteinander Tee getrunken und über ihre Verwandten und alte Zeiten geplaudert. Nicht lange danach lebten sie zusammen – wahrscheinlich weil sie schwanger geworden war.
    So hatte Tony Takitani die Geschichte zumindest von seinem Vater gehört. Ob Shozaburo Takitani seine junge Frau geliebt hatte, wusste Tony nicht. Sie habe ein ruhiges Wesen gehabt und sei hübsch, aber körperlich nicht sehr robust gewesen, erzählte ihm sein Vater.
    In dem Jahr nach der Hochzeit wurde Tony Takitani geboren, und drei Tage später war seine Mutter tot. So rasch wie sie gestorben war, wurde sie auch eingeäschert. Ihr Tod war ein sehr stiller, unauffälliger Tod. Widerstandslos und ohne großes Leiden war sie verschwunden, als wäre sie einfach erloschen oder als wäre jemand hinter die Bühne getreten und hätte ganz sacht einen Schalter umgelegt.
    Shozaburo Takitani wusste nicht, was er empfinden sollte. Mit dieser Art von Gefühlen kannte er sich nicht aus. Ihm war, als hielte etwas Dumpfes, Schales seine Brust umklammert, doch was es war und warum es dort war, blieb ihm unverständlich. Es war einfach ständig präsent und hinderte ihn daran, tiefer nachzudenken. Daher dachte Shozaburo Takitani eine Woche lang an überhaupt nichts. Er vergaß sogar das Baby, das er im Krankenhaus gelassen hatte.
    Der Major nahm sich seiner an und tröstete ihn, indem er sich beinahe jeden Tag mit ihm in der Bar der Kaserne betrank. »Du musst dich jetzt zusammenreißen«, ermahnte er Shozaburo Takitani. »Und den Kleinen anständig großziehen. Das ist jetzt alles, was zählt.« Wortlos nickte Shozaburo Takitani, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon der Major redete. Immerhin begriff er, dass sein Freund es gut mit ihm meinte. Der kam plötzlich auf eine Idee. »He, wenn du willst, werde ich Pate von deinem Jungen.«
    Erst jetzt fiel Shozaburo Takitani ein, dass er seinem Kind noch keinen Namen gegeben hatte. Der Major hieß Tony, also sollte das Kind auch Tony heißen. Nun ist Tony, wie man es auch dreht und wendet, kein besonders passender Name für ein japanisches Kind, aber diese Frage war dem Major keine Sekunde lang in den Sinn gekommen. Als Shozaburo Takitani nach Hause kam, schrieb er den Namen »Tony Takitani« auf ein Blatt Papier, heftete es an die Wand und starrte ein paar Tage lang immer wieder darauf. Tony Takitani – nicht übel, dachte er schließlich. Die amerikanische Besatzungszeit würde bestimmt noch eine Weile andauern, also konnte ein amerikanischer Vorname sich womöglich sogar günstig für seinen Sohn auswirken.
    Stattdessen wurde der Junge in der Schule als Mischling gehänselt, und die Leute machten ein komisches oder sogar ein etwas angeekeltes Gesicht, wenn er seinen Namen nannte. Viele hielten ihn für einen schlechten Scherz, und einige wurden regelrecht zornig.
    Dies war einer der Gründe, weshalb Tony Takitani zu einem verschlossenen Jungen heranwuchs. Es gelang ihm nicht, Freundschaften zu schließen, was ihm jedoch nicht sonderlich viel ausmachte. Allein zu sein war ein natürlicher Zustand für ihn, es war sogar eine Grundbedingung seines Lebens.

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