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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Frau mit in sein Haus und zeigte ihr den Raum voller Kleider. Außer in einem Kaufhaus hatte sie noch nie so viele Kleidungsstücke auf einem Haufen gesehen. Jedes einzelne davon war teuer, elegant und von erlesenem Geschmack. Der Anblick blendete sie fast, sie musste nach Luft schnappen. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, und so etwas wie sexuelle Erregung überkam sie.
    Als Tony Takitani sie allein gelassen hatte, riss sie sich zusammen und probierte einige Kleider und Schuhe an. Sie saßen wie angegossen. Ein Stück nach dem anderen nahm sie in die Hand und betrachtete es, strich mit den Fingerspitzen darüber und atmete seinen Duft ein. Hunderte von schönen Kleidern hingen da dicht gedrängt nebeneinander. Auf einmal kamen ihr die Tränen und begannen ihr unaufhaltsam über das Gesicht zu strömen. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen. In einem Kleid der Toten stand sie da und versuchte, ihr lautes Schluchzen zu unterdrücken. Tony Takitani, der kurze Zeit später ins Zimmer kam, um nach ihr zu sehen, fragte sie, warum sie weine.
    »Ich weiß nicht«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Vielleicht bin ich einfach durcheinander, weil ich noch nie so viele elegante Kleider auf einmal gesehen habe. Entschuldigen Sie.« Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab.
    »Wenn es geht, möchte ich, dass Sie ab morgen in mein Büro kommen«, sagte Tony Takitani in dienstlichem Ton. »Suchen Sie sich vorläufig Kleider und Schuhe für eine Woche aus und nehmen Sie sie mit nach Hause.«
    Sie brauchte lange, um eine Garderobe für sechs Tage auszuwählen. Anschließend suchte sie sich noch die passenden Schuhe heraus und packte dann alles in einen Koffer.
    »Nehmen Sie auch einen Mantel, falls es kalt wird«, sagte Tony Takitani.
    Sie entschied sich für einen warmen, grauen Kaschmirmantel. Er war federleicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen so leichten Mantel in der Hand gehalten.
    Nachdem sie gegangen war, betrat Tony Takitani das Garderobenzimmer, schloss die Tür und starrte eine Weile auf die Kleider. Er verstand nicht, warum die Frau beim Anblick der Sachen geweint hatte. Sie erschienen ihm wie Schatten, die seine Frau zurückgelassen hatte, Schatten in Größe 34, die reihenweise dicht aneinander auf Bügeln hingen. Es sah aus, als hätte man soundso viele Muster der grenzenlosen Möglichkeiten, die das menschliche Dasein (zumindest theoretisch) birgt, gesammelt und dort aufgehängt.
    Einst hatten sie den Körper seiner Frau umhüllt und waren von ihr mit warmem Atem und Bewegung erfüllt worden. Nun waren sie nicht mehr als ein schäbiges Bündel welker Schatten, die ihre lebendigen Wurzeln verloren hatten, bloß noch alte Kleider ohne Sinn. Je länger er sie betrachtete, desto schwerer fiel ihm das Atmen. Ihre Farben tanzten durch die Luft wie Blumenpollen und drangen in seine Augen und Ohren. Ihre Rüschen, Knöpfe, Epauletten, Ziertaschen, Spitzen und Gürtel sogen gierig die Luft im Zimmer ein, sodass sie immer dünner wurde. Der Geruch der überall verteilten Mottenkugeln schien einen körperlosen Ton wie von zahllosen winzigen Insektenflügeln zu erzeugen. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er diese Kleider nun hasste. Er lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Einsamkeit durchdrang ihn wie eine lauwarme Ausdünstung der Finsternis. Alles ist vorbei, dachte er. Egal, was ich tue, es ist vorbei.
    Er rief die Frau an und bat sie, die Stelle zu vergessen. Es tue ihm leid, aber er brauche sie nicht mehr.
    »Aber wie kann das denn sein?«, fragte sie erstaunt.
    »Es tut mir leid, aber die Lage hat sich geändert«, antwortete Tony Takitani. »Die Kleider und die Schuhe, die Sie mitgenommen haben, können Sie behalten, den Koffer auch. Vergessen Sie das Ganze einfach, und es wäre schön, wenn Sie mit niemandem darüber reden würden.«
    Die Frau begriff überhaupt nichts, aber je mehr sie ihn mit Fragen bedrängte, desto sinnloser wurde es. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich und legte auf.
    Danach war sie zunächst wütend auf Tony Takitani. Am Ende gelangte sie jedoch zu der Einsicht, dass es so wahrscheinlich am besten war. Die ganze Sache war von Anfang an merkwürdig gewesen. Schade zwar um den Job, aber irgendwas würde sich schon finden.
    Stück für Stück breitete sie die Kleidungsstücke aus Tony Takitanis Haus säuberlich aus und hängte sie in den Schrank. Die Schuhe verstaute sie im Schuhregal. Im Vergleich zu ihnen wirkten die eigenen

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