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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nicht schon genug Kleider und Mäntel bis an mein Lebensende.« Doch während sie bei Rot an einer Kreuzung wartete, musste sie unentwegt an den Mantel und das Kleid denken. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, welche Farben und welchen Schnitt sie gehabt und wie sie sich angefühlt hatten. Sie sah sie bis in alle Einzelheiten lebhaft vor sich. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie legte die Arme auf das Lenkrad, holte tief Luft und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatte die Ampel auf Grün geschaltet. Spontan trat sie aufs Gas.
    In diesem Moment raste ein Lastwagen, der noch bei Gelb über die Kreuzung fahren wollte, mit voller Geschwindigkeit in ihren blauen Renault Cinque. Ihr blieb nicht einmal Zeit, etwas zu spüren.

    Alles, was Tony Takitani nun geblieben war, war ein Zimmer voll von Kleidungsstücken in Größe 34 und ungefähr zweihundert Paar Schuhe. Was sollte er damit anfangen? Da er die Sachen seiner Frau nicht bis in alle Ewigkeit aufbewahren wollte, ließ er einen Händler kommen und verkaufte ihm die Accessoires für den Preis, den dieser ihm nannte. Strümpfe und Unterwäsche verbrannte er im Garten. Die Menge an Schuhen und Oberbekleidung war so unüberschaubar, dass er sie zunächst einfach ließ, wo sie waren. Nach der Bestattung seiner Frau verkroch er sich in dem Garderobenzimmer und starrte von morgens bis abends auf die dicht nebeneinander hängenden Sachen.
    Zehn Tage später gab Tony Takitani eine Zeitungsannonce auf. Er suchte eine 1,61 Meter große Assistentin mit Kleidergröße 34 und Schuhgröße 35, bei guter Bezahlung und günstigen Arbeitsbedingungen. Da das angebotene Gehalt ungewöhnlich hoch war, stellten sich dreizehn Frauen in seinem Büro in Minami-Aoyama vor. Fünf von ihnen hatten offensichtlich ihre Größe falsch angegeben. Unter den übrigen acht wählte er diejenige aus, deren Statur der seiner Frau am nächsten kam. Sie war Mitte zwanzig und hatte ein wenig markantes Gesicht. Sie trug eine schmucklose weiße Bluse und einen dunkelblauen engen Rock. Kleidung und Schuhe waren sauber, aber sichtlich abgetragen.
    »Die Arbeit an sich ist nicht schwer«, erklärte ihr Tony Takitani. »Sie kommen jeden Tag von neun bis fünf in mein Büro, kümmern sich um das Telefon, verschicken Manuskripte, holen Material ab, kopieren und solche Sachen. Es gibt nur eine Bedingung. Meine Frau ist vor kurzem gestorben und hat Berge von Kleidung in unserem Haus hinterlassen. Das meiste davon ist neu oder so gut wie neu. Ich möchte, dass Sie bei der Arbeit immer etwas davon tragen. Deshalb die Sache mit der Kleider- und Schuhgröße. Das klingt sicher seltsam für Sie und kommt Ihnen vielleicht sogar anrüchig vor, das würde ich gut verstehen. Aber ich hege wirklich keinerlei fragwürdige Absichten. Ich brauche nur etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen, dass meine Frau gestorben ist. Letztlich muss ich mich allmählich an die veränderte Lage anpassen, wie an einen anderen Luftdruck. Aber dafür brauche ich Zeit, und ich möchte, dass Sie so lange die Kleider meiner Frau tragen. Irgendwann werde ich bestimmt begriffen haben, dass meine Frau tot ist.«
    Die Bewerberin biss sich auf die Lippen, während sie hastig über diese seltsamen Bedingungen nachdachte. Wirklich eine merkwürdige Geschichte. So richtig folgen konnte sie Tony Takitanis Ausführungen nicht. Dass seine Frau vor kurzem gestorben war, hatte sie verstanden. Und auch, dass sie eine Menge Kleider hinterlassen hatte. Unverständlich blieb ihr jedoch, warum sie in diesen Kleidern zur Arbeit kommen sollte. Normalerweise hätte sie vermutet, dass noch etwas anderes dahinter steckte, aber der Mann wirkte nicht wie ein Strolch. Das merkte sie schon an seiner Art zu sprechen. Vielleicht hatte er durch den Tod seiner Frau einen Knacks bekommen, andererseits war er nicht der Typ, der wegen so etwas anderen Schaden zufügen würde. Außerdem brauchte sie wirklich dringend Arbeit. Sie suchte schon seit Monaten. Ab nächsten Monat würden sie ihr die Unterstützung streichen. Einen Job zu finden war schwierig, und ein so gut bezahltes Angebot würde sie sicher so bald nicht wieder bekommen.
    »Einverstanden«, sagte sie. »Vielleicht habe ich nicht alle Einzelheiten begriffen, aber ich glaube, ich kann tun, was sie mir erklärt haben. Vorher würde ich aber gern noch einen Blick auf die Kleider werfen. Wir sollten uns vergewissern, ob sie mir auch wirklich passen.«
    »Selbstverständlich«, sagte Tony Takitani. Er nahm

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