Blinde Wut
sich ihnen bot, ließ sie vor Entsetzen schaudern: am Boden lagen drei Menschen in ihrem Blut, eine Frau, ein Mann und ein Kind.
»Mein Gott!« stieß Max hervor, und Anne, die nichts sagen konnte, krallte sich an ihm fest und fing an zu schluchzen.
Zwei Polizisten in Uniform, ganz normale Streifenbeamte, die von der Zentrale geschickt worden waren, hatten dann die Kronbecks und die anderen Neugierigen, die ihnen nachgedrängt waren, aus der Wohnung gewiesen, den Tatort gesichert und warteten nun auf das Eintreffen der Kollegen von der Kripo.
Als erste tauchten Kommissar Lutz und sein Assistent Wagner auf. Lutz, ein Mann um die fünfzig, war mittelgroß und von untersetzter Gestalt, unauffällig und korrekt gekleidet und hatte ein Gesicht, in dem die Erlebnisse vieler und langer Dienstjahre Spuren in Form von tiefen Kummerfalten hinterlassen hatten. Sein Schnauzbart mit den nach unten weisenden Enden unterstrich die pessimistische Grundhaltung, die sich in seinen Zügen widerspiegelte. Seine Augen, die Entsetzliches, Unfaßbares, Grausames, Widerwärtiges und was der Beruf sonst noch alles mit sich brachte, zur Genüge hatten sehen müssen, wirkten dagegen fast fröhlich, so hellwach und lebendig war der Blick, der aus ihnen hervorschoß, um alles aufzunehmen und zu registrieren. Daß Lutz herzhaft und lauthals mit weit geöffnetem Mund und entblößten Zähnen würde lachen können, war aber undenkbar.
Ein solches Lachen würde auch sein Assistent Wagner niemals zustande bringen. Wagner lachte meistens mit gespitztem Mund und gekräuselten Lippen und sah dann immer so aus, als habe er kurz zuvor an einer Zitrone geleckt. Außer ihrer Unfähigkeit, übermütig zu lachen, hatten die beiden kaum Gemeinsamkeiten. Wagner war ungefähr zwanzig Jahre jünger als Lutz und überragte ihn an Körperlänge um einige Zentimeter, was ihm den Vorteil einbrachte, daß er zu seinem Chef nie aufblicken mußte. Er hatte eine Vorliebe für legere Kleidung, die ruhig auch farblich aus dem Rahmen fallen durfte. Sein Gesicht war glatt rasiert; einen Schnurrbart, wie Lutz ihn hatte, würde er sich nie antun, wie er es auch ablehnte, ohne zwingenden Grund Krawatten zu tragen. Das sollte seinen Widerspruchsgeist unterstreichen, und der war bei ihm in der Tat ziemlich ausgeprägt. Wenn er etwas nicht verstand oder nicht verstehen wollte, weil er es, wie so oft, viel besser wußte, konnte sein Tonfall ruppig werden, was immer mit einem nörglerischen Gesichtsausdruck einherging. Lutz hielt er für einen alten Trottel, dessen Zeit längst passe und dessen einzige vernünftige Aufgabe noch war, seinen Platz für jüngere, dynamischere und fähigere Leute zu räumen. Für ihn, Wagner, zum Beispiel.
Lutz und Wagner stiegen die Treppe zum ersten Stock hinauf, bahnten sich einen Weg durch die immer noch ausharrenden Hausbewohner, deren Neugierde größer zu sein schien als ihr Schlafbedürfnis, und betraten die Wohnung der Däublers, wo sie von den beiden Streifenbeamten begrüßt und gleich zum Wohnzimmer, dem Tatort, geführt wurden.
Obwohl sie ähnliches sicher schon oft gesehen hatten, waren sie von dem Anblick der drei in ihrem Blut liegenden Menschen schockiert und standen da wie gelähmt. Eine winzige, kaum wahrnehmbare Bewegung des Kindes löste mit einem Schlag die Erstarrung von Lutz. Er stürzte zu dem Kind, kniete sich nieder, legte den Körper fachgerecht in eine stabile Seitenlage und wandte sich an einen der beiden Streifenbeamten: »Warum ist noch kein Arzt da?«
»Er ist verständigt«, gab der Polizist beflissen zurück, und tatsächlich erschienen in diesem Moment, als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet, der Notarzt und zwei Sanitäter in der Wohnung. Ein Blick genügte dem Arzt, um eine Entscheidung zu treffen, und die fiel zugunsten der Frau, um die der Arzt sich zuerst kümmern wollte, obwohl sie allem Anschein nach tot war.
»Das Kind lebt noch, Herr Doktor!« rief Lutz und hielt den Arzt am Ärmel fest.
Der Arzt änderte sofort seinen Plan, begann mit der Untersuchung des Kindes, prüfte die Augenreflexe, stellte eine Schußwunde am Bauch fest, die er, so gut es ging, versorgte, verabreichte eine Spritze, legte eine Injektion und stöhnte gestreßt: »Wenn das nicht hilft, müssen wir ihn noch intubieren.«
Die Sanitäter hatten unterdessen die Wiederbelebung der Frau vorbereitet, aber das Gerät zeigte eine absolute Nullinie.
»Haben Sie inzwischen irgendwelche Lebenszeichen bei der Frau
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