Blinde Wut
unbemerkt am Pförtner vorbeizukommen, um durch die Luftschleuse des Ausgangs nach draußen zu gelangen.
Als Däubler das Krankenhaus verlassen hatte und die Freitreppe hinabeilte, zuckte ein Blitz auf, dem Sekunden später der Donner folgte, und als er das Taxi erreichte, das vor dem Krankenhaus wartete, fing es an zu schütten. Däubler stieg schnell in den Fond, und das Taxi fuhr los.
Max Kronbeck hatte den Fernseher ausgeschaltet und den Stecker gezogen, denn das Gewitter war jetzt bedrohlich nahe gekommen. Bedrohlich nicht für ihn, der von dem Hochgefühl erfüllt war, das sich bei ihm immer einstellte, wenn es gewitterte, um so mehr aber für seine Frau, die zusammengekrümmt auf der Couch saß und sich bei jedem Donnerschlag die Ohren zuhielt. Die Blitze, für ihn das Schönste an der Sache, konnte man leider nicht sehen, weil die Jalousien herabgelassen und hermetisch verschlossen waren.
Kronbeck sah zu Anne hin, um abzuschätzen, wann die Panik sie überfallen würde, aber zu seiner Verwunderung blickte sie ihn glückselig an.
»Willst du mich nicht wenigstens ein bißchen beschützen?« bat sie und gab ihm ein Zeichen, sich zu ihr zu setzen.
Kronbeck zögerte. Das war nun schon das zweite Mal in Folge, daß sie ein völlig untypisches Verhalten an den Tag legte, und er fragte sich bekümmert, welche Auswirkungen sich diesmal für ihn ergeben würden.
Als er neben ihr auf der Couch saß, den Arm um sie gelegt und sie sich an ihn geschmiegt hatte, fühlte er auf einmal, daß all die Befürchtungen, die er gehegt hatte, völlig überflüssig gewesen waren.
Lutz hatte Wagner aus zwei Gründen zu sich in die Wohnung gebeten. Einmal wollte er in entspannter, privater Atmosphäre eine Aussprache mit seinem Assistenten herbeiführen, denn so, wie sie in letzter Zeit miteinander umgingen, konnte es nicht weitergehen. Zum anderen hatte er im Archiv des Präsidiums einen interessanten Artikel entdeckt, den er Wagner unbedingt zeigen wollte. Wagner war zum ersten Mal in der Wohnung seines Chefs. Die Einrichtung war grauenhaft! Dunkle, altdeutsche Möbel, eine Standuhr, die ihm mit ihrem monotonen Geticke binnen kürzester Zeit auf die Nerven gehen würde, dazu alles akkurat aufgeräumt und penibel sauber. Hier war es nicht auszuhalten, und er bereute schon, daß er nicht zu der Ausrede gegriffen hatte, die ihm auf der Zunge lag, als Lutz diese Einladung aussprach.
Lutz hatte Wagner beobachtet, als der sich in der Wohnung umsah. Seine abschätzigen Blicke waren ihm nicht entgangen, auch nicht das spöttische Zucken, das bei der Betrachtung dieses oder jenes Gegenstandes um seinen Mund spielte, und so strich er kurz entschlossen den ersten Punkt seines Programms.
»Hier, lesen Sie mal«, sagte er dann, um auf den zweiten Punkt zu kommen, und gab Wagner den Artikel.
»Das Verhältnis des Täters zu seiner Waffe und die Bedeutung der Schußwaffe für Entstehung und Verlauf der Tat«, las Wagner mit schülerhafter Betonung vor. »Ja und?« wandte er sich dann Lutz zu. »Soll das was mit dem Däublerschen Motiv zu tun haben?«
»Manchmal sind Sie geradezu von einer überschäumenden Intelligenz«, meinte Lutz, der seinen Ärger nur schlecht verbergen konnte. Er nahm Wagner das Blatt wieder aus der Hand und fing selbst an zu lesen: »Hier steht, daß ein selbstunsicherer und charakterlich weicher Mensch, der eine Schußwaffe besitzt, unter emotionalem Druck der Versuchung nicht widerstehen kann, einen im Moment bestehenden Konflikt aggressiv und radikal mit der Schußwaffe zu lösen. Und jetzt kommt der entscheidende Satz: Nach der Tat steht der Täter dann häufig fassungslos der Tatsache gegenüber, daß das Abdrücken der Waffe, das weder bewußt noch willentlich geschah, das er manchmal sogar noch nicht einmal mitbekommen hat, einen Menschen getötet oder verletzt hat.«
Lutz hielt inne und sah Wagner bedeutungsvoll an. »Wenn wir davon ausgehen«, fuhr er dann fort, »daß sich Däubler in einer solchen Situation befand, würde das den Schuß auf seine Frau erklären. Aber warum schießt er dann auf Christian?«
»Der hat halt irgendwie unbewußt der Familie die Schuld an seiner Misere in die Schuhe geschoben«, sagte Wagner und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ja, und dann hat er halt erst seine Frau und sein Kind und dann sich selbst umgelegt. In blinder Wut eben.«
»Alles Spekulationen«, meinte Lutz.
»Das sagen ausgerechnet Sie!« gab Wagner zurück.
Die beiden maßen sich mit
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