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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zu werden. Wenn sie erwachsen war, wollte sie im Santa Fe Institute arbeiten. Dazu mußte man aber beinahe ein Genie sein. Sie hatte nur Einser in der Schule, glaubte jedoch nicht, daß sie damit schon als Genie galt. Sie bekam Einser, weil sie schon lange herausgefunden hatte, daß man gute wie schlechte Noten mit demselben Aufwand bekam. Es war genauso leicht, die Englischaufgabe pünktlich abzugeben wie zu spät. Einmal mußte man sie ja abgeben, oder? Es war sogar besser, weil man dann in Ruhe gelassen wurde. Kein Direktor quatschte einen voll, kein Lehrer hing einem auf der Pelle, keine Familie in den Ohren, man solle sich mehr anstrengen.
    Mary schwang sich hoch und setzte sich. Sunny war schon wieder weg. Wohin?
    Sie arbeitete zwei Tage die Woche in Schell's Pharmacy. Zum Mindestlohn, manchmal an der Getränkebar, manchmal lieferte sie abends mit dem Fahrrad Medikamente aus. Es war langweilig, und sie mochte Dolly Schell nicht und wußte auch genau, daß Dolly sie nicht mochte. Von verwandtschaftlicher Zuneigung konnte keine Rede sein, vermutlich nur, weil sie Angelas Schwester war und Dolly Angela haßte. Das war immer so gewesen, schon so lange Mary Dolly kannte, aber Angela hatte es nie begriffen.
    Dolly Schell war nun ihre einzige Angehörige. Würde Bibbi versuchen, sie an Dolly Schell auszuliefern, nur weil sie sonst keine Verwandten mehr hatte? Herr im Himmel! Und warum hatte sich Dolly sogar angeboten, nach England zu fliegen? Sie hätte fliegen müssen. Statt dessen hatte sie sich von der Polizei sagen lassen müssen, sie sei zu jung, um die tote Schwester zu identifizieren. Das war ja wohl der Gipfel! Aber sie hatte es geschafft, ihre Wut zu unterdrücken, als Dolly ihr gesagt hatte, sie flöge. Nach Heathrow und von dort mit der Bahn nach Salisbury. Mary konnte ihre Gefühle gut verbergen. Und sie mußte zugeben, Dolly hatte ihr angeboten, mitzukommen. Weil sie genau wußte, daß sie ablehnen würde.
    Ärgerlich sprang sie auf die Füße und legte sich die kalten Hände auf das heiße Gesicht. Nach einer Minute fühlte sie sich besser und pfiff nach Sunny. Sie wußte, daß Pfeifen nichts brachte, wenn Sunny keine Lust hatte zu kommen. Sie schaute sich wieder um. Geisterhund.
    Bei dem Gedanken an den Beamten von Scotland Yard ging es ihr gleich besser. Wie Dr. Anders behandelte er sie, als besäße sie wenigstens einen Funken Intelligenz, er nahm sie ernst. Es war schrecklich genug, daß Angie tot war. Aber ermordet?
    Mary sah zu, wie die Sonne unterging. Die prächtigen Sonnenuntergänge gehörten zu den Dingen, die sie hier liebte. Weit hinten am Horizont glühte der Himmel, loderte auf in orangem Rot, färbte den Horizont in verschiedene Rosa- und Lavendeltöne.
    Und in einem anderen Teil der Welt ging die Sonne auf. Hatten die Menschen, die Orte wie Stonehenge anlegten, geglaubt, die Sonne sei Gott? Ein Gott, der sie immer wieder verließ. Aber für ihn und dafür, daß er wiederkam, hielten sie rituelle Opferungen ab. Glaubten sie, daß der Gott immer wieder erschien, weil sie das taten? Und so ging es immer weiter, in einer Art Kreisbewegung, und nie begriff es jemand.
    Ein solcher Ort der Mythen und Mysterien gefiel ihrer Schwester: Offenbar wollte Angie glauben, daß das Leben so war - Mysterium und Opfer. Solche Überzeugungen muß man sich leisten können, dachte Mary, schüttelte den Kopf und kniff den Mund zusammen wie eine säuerliche alte Jungfer. Sie hätte gern etwas mehr Ehrfurcht empfunden, aber es fiel ihr zu schwer. Ihrer Meinung nach bestand das Leben darin, seinen Englischaufsatz pünktlich abzugeben und für einen Hungerlohn mit dem Fahrrad Medikamente auszuliefern. Ja, wenn man Gott mal bitten würde, einem dabei zu helfen, aber da wäre bestimmt nur Schweigen im Walde.
    Wieder schämte sie sich. Solche harschen Gedanken schienen ihr wie Verrat an ihrer Schwester. Mary zog die Beine hoch und stützte das Kinn auf die Knie.
    Was sie wirklich niemandem erklären konnte und auch nicht wollte, war ihr Mangel an Gefühl; im Grunde war sie versteinert. Seitdem der Polizist ihr das von Angie erzählt hatte, war sie wie betäubt. Die ganze Woche schon. Sie nutzte ihre Trauerzeit, in der sie nicht zur Schule mußte, nicht richtig. Es war wie damals, als ihre Eltern gestorben waren, aber da war sie erst fünf und alles anders gewesen. Und obwohl sie das nie jemandem gesagt hatte, damals hatte sie sich für sie gefreut. Man stelle sich doch vor: Mann und Frau sterben auf diese Weise

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