Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
gefalteten Händen still da und schaute entweder durch die welligen Glasscheiben der Flügelfenster, die damals vermutlich so wie heute mit einer Patina hellbraunen Staubs bedeckt waren, was der Szene darunter einen leicht goldenen Glanz verlieh, oder nahm an dem runden Tisch Platz, stützte das Kinn auf die Hand und betrachtete die gerahmten Fotografien der Beatonschen Vorfahren. Ja, die Fenster hatten Schmutzstreifen, und auch die Vorfahren waren immer noch in den Zinn- oder dunklen Holzrahmen auf dem Tisch arrangiert. Lady Marjorie vergaß nie, Mr. Beatons Kunstfertigkeit zu loben.
    Das wußte Melrose aus Mr. Beatons Erzählungen. Lady Marjorie, Countess of Caverness - ja, das war eine Lady, die den Titel verdiente!
    »Mylord.« Mr. Beatons kurze Verbeugung war keineswegs servil, nein, hier bekannte man sich lediglich zu den alten Sitten und Gepflogenheiten. Melrose hatte ihm nie erzählt, daß er seine Titel abgelegt hatte, denn es hätte Mr. Beaton zu sehr verstört, zu deutlich angezeigt, daß Unordnung, und Gleichgültigkeit die Oberhand gewannen, daß die modernen Zeiten angebrochen waren. Dabei hatten die modernen Zeiten nichts damit zu tun, und Gott weiß, Gleichgültigkeit schon gar nicht.
    »Ich habe soeben dieses feine Kammgarn hereinbekommen«, mit einem Kopfnicken bedeutete Mr. Beaton seinem Lehrling, zu dem durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven zu gehen, wo die Stoffballen aufbewahrt wurden, »das gewiß Ihre Zufriedenheit findet.« Der große junge Mann holte einen schweren Ballen dunkelgrauen Wollstoffs hervor. Mr. Beaton zog einen Zipfel heraus, damit Melrose ihn begutachten konnte. »Er fühlt sich an wie Seide.«
    Melrose ließ den Stoff durch die Finger gleiten. Er fühlte sich nicht wie Seide an, sondern wie Luft. »Mr. Beaton, das ist ja hauchzart. Wie kann Wolle so leicht sein?«
    Die Frage war rhetorisch. Der Schneider lächelte und zuckte mit den Schultern - eine minimale Bewegung des Oberkörpers. Mr. Beatons Bewegungen waren stets anmutig, aber sparsam, als wolle er wegen seiner geringen Größe mit seiner Energie haushalten. Schließlich wartete genug Arbeit auf ihn.
    Und außerdem fand er, daß es nicht ausreichte, exquisit gekleidet zu sein. Die Etikette verlangte, daß man es nicht merkte - ein Mann trug seine Kleidung, wie er gute Werke tat: Er machte kein Aufhebens davon.
    Bei der Anprobe brachte der Lehrling Tee und hauchdünne Kekse, die so geschmacklos wie Abendmahlsoblaten waren, und dann standen sie mit den Tassen in der Hand herum und plauderten. Mr. Beaton stand immer. Offenbar setzte er sich nur, um zu sehen, wie das Tuch über dem Knie spannte oder die Wade hoch verlief. Er wies seine Kunden stets an, dieselbe Haltung wie sonst auch einzunehmen - nicht steif wie ein Brett dazustehen, nicht, als ob sie einen Besenstiel verschluckt hätten. Denn beim Anpassen der Kleidung mußte man sich nach den Tatsachen richten, nicht nach dem Wunschdenken der Leute.
    Nach dem Tee war die Anprobe beendet. Das Ritual beherrschten alle, jeder kannte seine Rolle.
    Lächelnd verabschiedete Melrose sich und ging über die Treppe zurück in die Old Brompton Road. Sich und diesen Tag konnte er nur mit dem Wort »erstklassig« beschreiben. Auch die Straße blühte, gedieh und funkelte, als sei alles aus britischem Sterlingsilber. Die Sonne schien, die Passanten eilten dahin. Farben und Klänge trieben an Melrose vorbei und um ihn herum und stießen ihn an wie Ellenbogen oder Schirme. Hatte die Old Brompton Road eine Wordsworthsche Transformation durchlaufen? Beton, Metall und Glas verschmolzen zu einer seltsam natürlichen Szenerie. Das lange weiße Banner wehte am Oratory herab und sah aus wie ein Wasserfall. Die Straße floß wie ein Fluß an den Autos vorbei, die wie Felsvorsprünge wirkten.
    Melrose fühlte sich so vollkommen eins mit London, daß er hätte weinen mögen.
20/II
    Ah, Luft! Ah, Sonnenlicht!
    Den Unbilden der Victoria Line entronnen, ging Melrose von der U-Bahn-Station Pimlico zum Embankment in Chelsea, benommen von dem Blick auf Themse und Westminster. Die Vauxhall Bridge lag hinter ihm, das dunkle filigrane Gerüst der Waterloo Bridge in einiger Entfernung vor ihm. Er blieb stehen, schirmte die Augen mit der Hand ab, schaute zur Westminster Bridge und dachte wieder an Wordsworth.
    Sein offener dunkelblauer (nicht Beatonscher) Kaschmirmantel flatterte ihm um die Beine, als er, nun wieder durchdrungen vom Geist der Stadt, am Embankment entlangschritt. Romantischer Stimmung,

Weitere Kostenlose Bücher