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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Mr. Beatons Atelier - seine Räume, um genau zu sein - im ersten Stock über einem Süßwarengeschäft in der Old Brompton Road in der Nähe des Oratory.
    Melrose mochte auch den Süßigkeitenladen, er ging immer hinein in der Hoffnung, daß hinter der Ladentheke diesmal eine kleine graue Dame in lilafarbenem Taftkleid, mit Spitzenkragen und Kameebrosche, schüchtern lächeln würde, während sie mit der Metallschaufel in das schräge Glas mit den Gummibärchen fuhr. Eine solche Dame exisierte nur in seiner Einbildung oder war möglich weise jemandem aus seiner Kindheit nachgebildet, in der es -dachte er immer gern - von Süßigkeitenläden gewimmelt hatte. Aber die Verkäuferin hier und heute war das ganze Gegenteil: Sie saß mit phlegmatischer Miene und gekraustem, blondem Haar da, las und kaute Kaugummi. Dem Blick nach zu urteilen, den sie Melrose zuwarf, gehörte sie eher in eine Apotheke anstatt in diese wohlriechende Umgebung. Da konnte sie statt Zitronendrops kaltblütig Gift verabreichen.
    Aber über ihren ersten eisigen Blick hinaus belästigte sie ihn nicht weiter. Er wollte ja nur die Reihen dicker Gläser und die Pralinenschachteln von Cadbury bestaunen. Hm, Opernmischung! Als er darum bat, bedient zu werden, warf sie ihr Klatschblatt beiseite, quälte sich aus dem Stuhl und zog ihren Pullover glatt. Zu ihrer nicht geringen Verärgerung erwarb Melrose winzige Mengen Zitronenbrausebonbons, Colaknaller, Smarties, saure Pommes, Sahnekaramellen und Regenbogenkissen. Dabei ging es ihm nicht um die Süßigkeiten, er wollte nur zuschauen, wie das ganze Procedere ablief, wie die Aluminiumschaufel in Aktion trat, wie - immer mit Stirnrunzeln - abgewogen wurde, wie die kleinen weißen Tüten gefüllt und rasch zugedreht wurden. Er bezahlte und bat sie darum, die sechs Tütchen in eine größere Tüte zu packen. Sie weigerte sich, natürlich einzig und allein aus dem Grunde, weil im Handbuch für Verkäufer stand, daß man grundsätzlich den Wünschen der Kunden zuwiderhandeln müsse. Und das tunlichst durch eine entsprechende Grimasse oder Pose oder zur Not durch ein offenes Wort kundtat. Sie verzog das Gesicht. Melrose strahlte sie an, was sie noch mehr erboste. Ihre großen leblosen Augen verschwanden so bald wie möglich hinter dem Schutzschild des Klatschblattes.
    Trotzdem verließ Melrose den Laden, getröstet in dem Wissen, daß der Prototyp noch existierte. Es gab noch so etwas wie Lebensart, Platos Schatten tanzten noch in der Höhle. Er ging zur nächsten Tür und lief die düstere Treppe zu Mr. Beaton im ersten Stock hinauf.
    In Mr. Beatons Wohn- und Arbeitsräumen bestätigte sich die Existenz von rechter Lebensart aufs neue. Mr. Beaton sah nämlich aus, wie es sich für einen Schneider gehört. Wie der Schneider von Gloucester von Beatrix Potter. Er war klein, fast zerbrechlich, und hatte einen runden Schädel, der im Lichtkegel der Lampe glänzte. Die randlose Brille benutzte er nie zum Hindurchschauen, sondern nur zum Darüberschauen, manchmal trug er eine grüne Blende hoch auf der Stirn, immer aber ein Maßband um den Hals. Außerdem hatte er immer einen Lehrling, wenn auch über die Jahrzehnte verschiedene. Sie schienen austauschbar. Der junge Mann, der jetzt da war, hatte einen braunen Haarschopf, ebenfalls eine Brille und war wie sein Herr und Meister sehr höflich und korrekt. In diesem Etablissement konnte man vor Höflichkeit vergehen.
    Von Jahr zu Jahr vergaß Melrose, daß er diese Räume stets mit einem Wonneseufzer betrat. Nichts hatte sich geändert, würde es auch nie. Mr. Beaton war der Schneider von Melrose' Vater und selbst Lehrling gewesen, als der ältere Mr. Beaton der Schneider von Melrose' Großvater gewesen war. Ein paar Menschen waren so fest miteinander verwoben, daß Melrose es fast als ein Wunder empfand und sich die sen tim entale Überzeugung verzieh, daß sich bei Mr. Beaton nie etwas änderte. Da Mr. Beaton wenig mit der Gegenwart zu tun hatte, blieb viel Platz für die Vergangenheit. O doch, er las Zeitung und wußte, daß Regierungen kamen und gingen (»die Konservativen, Labour, die Soziopathen«, kicherte er immer), aber das kümmerte ihn nicht.
    Ein- oder zweimal hatte Lady Marjorie - Melrose' Mutter - seinen Vater hierherbegleitet, lächelnd und schweigend dagesessen, während Mr. Beaton Maß nahm. Sie hatte sich nie eingemischt oder gesprochen, wenn ihr Gatte sie nicht ausdrücklich wegen des Stoffs oder der Farben nach ihrer Meinung fragte. Sie saß immer mit

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